„Totaler Kohl“ im Osten

■ Mächtiges Gedrängel auf der Ostseite des Tores / Wiedervereinigungseuphorie und Jubel für Kohl / Wenig Beifall für SED-Flugblattverteiler und Hans Modrow

Die ersten kommen schon morgens um neun zum Brandenburger Tor, zur Ostseite am Pariser Platz. Die von weither gereisten Familien richten sich auf einen langen Festtag ein, auf Weihnachten und Sylvester am 22. Dezember. Mittags kommen die Berliner, bewaffnet mit schwarz-rot-goldenen Transparenten: „Wir sind eine Familie“. Vereinigung ist angesagt. Martin H. aus Pankow hat aus Styropor ein zusammenklappbares Herz geschnitten: „Berlin, eine Seele und wieder ein Herz“. 28 Jahre hat er auf diesen Tag gewartet, und 28mal will er unter der Quadriga Das ist die Berliner Luft singen. Bei dieser Euphorie hat es die gewendete SED -PDS schwer. Mit Mühe bringen verschüchterte Funktionäre Flugblätter - „Was wir wollen“ - unters Volk. Merkzettelchen - „Wollt ihr den totalen Kohl“ - werden den Verteilern aus der Hand gerissen und vor ihren Augen zertrampelt. Mehr Erfolg haben die von der Moon-Sekte. Das Hetzorgan 'Causa‘ mit dem programmatischen Titel Ein frohes Fest Deutschland und dem besinnlichen Artikel Der Nationalsozialismus ist nur religionsgeschichtlich begreifbar werden nur zu gerne abgenommen.

Kurz nach zwei Uhr, die Menge vor den Absperrgittern ist auf etliche tausend angewachsen, blitzt für einen Moment der chaotische Charme des 9. Novembers auf. Die Menschen halten sich nicht an das deutsch-deutsch ausgekungelte Protokoll, das die Regierenden beider Länder vor dem Volk schützen soll. Die Absperrgitter werden beiseite gedrückt, und alle stürzen direkt vor das Brandenburger Tor, johlend und lachend. Nur noch ein ausgedünnter Kordon von Volkspolizisten bremst die Massen rund um das Holzpodest, auf dem Modrow und Kohl, Krack und Momper für zwei Minutenansprachen erwartet werden. Aber eigentlich warten alle nur auf einen. „Helmut, Helmut“, so heißt unser Kohl, zum Anfassen gerne, in Berlin-Ost. Es schüttet vom Himmel, der Stimmung tut das keinen Abbruch. Und da kommen sie, die sehnsüchtig erwarteten Prominenten. Die blickverstellenden Regenschirme werden eingeklappt, und bevor Modrow die ersten Worte finden kann, ist das Podest umringt vom begeisterten Volk. „Wir sind das Volk, wir sind ein Volk“, tönt ihm entgegen. Die nachdenklichen Worte Modrows, die Erinnerung an die Nazis, die 1933 das Tor mit Fackeln und Stiefeln eroberte, will keiner hören. Wenige Hände rühren sich zum Beifall, er flammt erst auf, als Ceausescus Sturz erwähnt wird. Orkanartig wird hingegen „Helmut, Helmut“ gefeiert, jede Sprechblase wird mit Jubel begrüßt. „Die spinnen ja genauso wie die Sachsen“, kommentiert ein Zuhörer. Nur Momper kann auf dieser Stimmungswoge mitschwimmen, der Beifall gilt der Bundesrepublik und West-Berlin. Zum Schluß wird gesungen, nicht das Deutschlandlied, wie von einigen wenigen leise angestimmt, sondern laut und von vielen So ein Tag, so wunderschön wie heute. Und dann geht es ab, in einem unüberschaubaren und lebensgefährlichen Gedrängel durch das Brandenburger Tor. Von Westen und von Osten schieben sich die Menschen aufeinander, verkeilen sich zur deutsch-deutschen Wiedervereinigung, klettern die Mauer rauf und runter und runter und rauf, zwängen sich durch die herausgebrochenen Ein- und Ausgänge, noch einmal undeutsch wie im November, undiszipliniert, unordentlich und schön.

Anita Kugler