Implosion und Aufbruch

■ Die freie Theaterszene in Ost-Berlin

Die Szene ist da, wo die Macht nicht gastiert. So hätte man noch vor wenigen Wochen die Frage nach der Landschaft alternativer Kunstproduktion, nach den Oasen einer „anderen“ Theaterkultur beantworten können. Seit dem theatralischen Fall der Mauer scheint dieser Satz, wie so manches nun zwischen Treptow und Prenzlauer Berg, allerdings nicht mehr zu stimmen. Blixa Bargeld in einem VEB-Kulturspeisesaal, der Ostberliner Geheimtip „Bobo in white wooden houses“ im Ecstasy - so wie die Touristen auf der Westberliner Seite am Schutzwall hämmern, so zerstört der rasante politische Lauf der Dinge die einstige Druckkammer der Nonkonformen. Nachdem die bewaffneten Schutzengel der SED-Kulturpolitik unsanft vom Himmel auf den Asphalt von Leipzig und Berlin fielen, fehlt mit dem gemeinsamen Antipoden das einigende Band der anderen, das erkennbare Szene-Signum.

Ein ehemals kreatives Kraftfeld implodiert, und die verdienten Killerzellen im poststalinistischen Restraum suchen nach Nahrung und Reizen, entweder im autonomen Kreuzberg oder eben im Neuen Forum. Nicht nur den alternativen Theatermachern droht die Stunde der Wahrheit, da im „Spiegel das Feindbild auftaucht“ (Heiner Müller), aber für sie auf spezifische Weise. Denn im Gegensatz etwa zur Rockmusik, die sich Spielmöglichkeiten in Klubs, ja teilweise sogar in Stadien ertrotzte und schon geraume Zeit vor der Wende unter dem Sammelnamen „andere Bands“ auf Amiga -Rillen gepreßt wurde, konnte die freie Theaterszene nicht auf solche utopischen Arrangements hoffen. Ihr Publikum war einfach rein zahlenmäßig keine politisch relevante Größe, das Obrigkeitsinteresse an einer öffentlichen Kanalisierung folglich begrenzt, Verbote sowieso kostenaufwendiger und abschreckender.

Ergo gibt es bis heute kein einziges Off-Theater in Berlin, Hauptstadt der DDR. So waren die Theatermacher von jeher aufs Improvisieren verwiesen, spielten aufwendige Inszenierungen für ein Trinkgeld, da auch in den nach und nach verfügten Bezahlungsverordnungen für die Subkultur die freie Theaterszene ausgegrenzt blieb. Und oft genug spielte man vor halbleerem Saal, denn die Eigenwerbung konnte kurzerhand von jedem Hilfspolizisten und Stasizuträger als „staatsfeindlich“ tituliert und geahndet werden.

Dennoch setzten sich Qualität und rigoroser existentieller Anspruch ab und an über die lästigen Hindernisse hinweg, blendeten einzelne Inszenierungen wie Blitzlichter in einem kulturell abgedunkelten Raum. Prominentes Beispiel wohl die in einem alten Laden in der Knaackstraße probende Theatergruppe „Zinnober“. Vor allem ihr Stück Traumhaft (jüngste Produktion: Sponsai: Erinnern. Ein Sommernachtstraum) ebnete den schmalen Weg der Akzeptanz wenigstens einer Handvoll von Zuständigen, die aber ausreichte, um auch anderen Projekten ein paar Stoppschilder zu nehmen. Etwa der jetzt gänzlich nach West-Berlin verzogenen Gruppe „Medea“ oder dem „B.A.K.T.“, deren 1989er Produktion Mysterium ferrum Aufsehen erregte. Daneben gab es eine Vielzahl von Projekten, deren Existenz nicht vom Streben nach ästhetischer Innovation, nach der Bewahrung künstlerischer Autonomie motiviert war, sondern die mit musikalisch-literarischen Schauspielerprogrammen, kabarettistisch aufgeladenen Szenenstudien ans große Geld der FDJ-Jugendklubs wollten und kamen. Vom Mainstream in die moralische Gosse, der Rest ist Schweigen.

Heute, nach dem Paukenschlag der Öffnung, scheinen die alten Gruppen und Vereinbarungen auseinanderzufallen, neue Leute mit gänzlich anderem Background nachzurücken. Beeindruckendstes Beispiel eines Aufbruchs ist wohl derzeit die Produktion der Theatergruppe „Lautlinie“ im Berliner Szeneklub „JoJo“. Im Sprachspiel der Hauptakteurin, der aus dem biederen Stadttheatergeschäft einer DDR-Kleinstadt ausgestiegenen Amina Gusner, ist vom Frust und dem Verlangen nach Bewahrung menschlicher Würde die Rede. Ausgehend von einer freien Bearbeitung des Medea-Materials von Heiner Müller, erfährt man vom Alpdruck verordneter Sprachlosigkeit und den Schwierigkeiten und Krafteinsätzen, eine eigene, unverbrauchte Sprache zu finden, sie gegen die starren Strukturen eines maroden Regimes zu stemmen. Im Kampf um ihr Ich dreht die Akteurin autistische Pirouetten auf dem dünnen Eis der Selbstbehauptung in einer von „verdorbenen Greisen“ (Biermann) dominierten Welt. Was immer dieser Mund auch spricht, so der Titel der empfehlenswerten Lautperformance (wieder am 14./15. Januar, je 21 Uhr), Amina Gusners Vortrag ist hochartifiziell und im besten Sinne verwunderlich, Geheimnis und Offenbarung.

Aber auch weniger innovativ ausgerichtete Gruppen wie das „Hoftheater Prenzlauer Berg“, „podium manufactur“, Theaterprojekte wie „Schlagersüss“, „TheMa“ und „M.u.T.“, Volkstheatergruppen wie „Gaukelstuhl“ und „Lumpensack“ sind heute in den gängigen Klubs oder offiziellen Podien, etwa dem „Theater unterm Dach“ oder der „Studiobühne Friedrichshain“ in der Frankfurter Allee 91, zu erleben.

Doch der zornige Ruf nach eigenen Spielstätten im harten Kern der Szene wird lauter, zumal die Sicht auf das vielfältige Westberliner Off-Theaternetz, aber damit auch auf die dort noch größere Misere an Probemöglichkeiten diesem Verlangen stetig Nahrung gibt. Schon schreien einige nach Auflösung des Nobel-„Theaters im Palast“, während andere in Eigeninitiative Fabrikräume umrüsten, Kulissen zimmern, Premieren vorbereiten. Man darf gespannt sein, wie lange man brauchen wird, den eisernen Vorhang nach oben zu hieven. Kurioserweise jedenfalls spielt ausgerechnet das Theater im Mega-Szenario der Wende noch keine Rolle.

Paul Kaiser

Lautlinie: Was immer dieser Mund auch spielt, Jugendklub JoJo, Wilhelm-Piech-Straße 216, 1054 Berlin, Telefon 2823727, 14./15. Januar; Theater unterm Dach (siehe Beiblatt), Studiobühne Friedrichshain, Frankfurter Allee 91, 1035 Berlin