Das Tor, das Tor: Symbol, Symbol!

Bei strömendem Regen wurde der feierliche Akt inszeniert: das Brandenburger Tor ist auf / Momper: „Jetzt freue dich, Berlin!“ / Modrow blieb nüchtern  ■  Aus Berlin Brigitte Fehrle

Der deutsch-deutsche Wahnsinn hat seinen Höhepunkt erreicht. Als gestern nachmittag bei strömendem Regen das Brandenburger Tor geöffnet wurde, fiel bei Politikern und Besuchern jede Zurückhaltung. Bundeskanzler Kohl hielt nach seiner Niederlage vor dem Rathaus Schöneberg am 10. November jetzt von Osten her Einzug in die Stadt. Es war der Marsch aufs Brandenburger Tor. Seite an Seite mit Ministerpräsident Modrow, immer Richtung Westen - im Gefolge der Oberbürgermeister von Ost-Berlin, Erhard Krack und Walter Momper, sein West-Kollege.

Es war der Sieg der Symbole. Berlins Regierender Bürgermeister, der nach der Öffnung der Grenze im November mit seiner Pragmatik und Besonnenheit bestochen hat („Das Brandenburger Tor ist ein Übergang wie jeder andere - es geht darum, daß die Menschen zusammenkommen“), eiferte gestern dem Kanzler nach: „Die Öffnung dieses Grenzuübergangs berührt uns wie kein anderer“, rief er der Menge zu. „Das Leben wird noch schöner werden“, ging es weiter und gipfelte in einem „Jetzt freue dich, Berlin“.

Die Nüchternheit eines Hans Modrow dagegen war erfrischend: Die Geschichte werde zeigen, ob die Mauer, die in der Absicht gebaut wurde, den Frieden zu sichern, die „ultima ratio“ gewesen sei. Und fast demütig fügte er hinzu: „Nehmen sie es als ein neues Zeichen des guten Willens meiner Regierung, an einem friedlichen europäischen Haus mit zu bauen.“ Der Bundeskanzler vergißt inzwischen in seinen Reden nicht mehr darauf hinzuweisen, daß auch „unsere Nachbarn“ bei der Frage der Wiedervereinigung mitzureden haben. Beschämend aber war, als Oberbürgermeister Krack von Ost -Berlin in seiner Rede mit „Helmut, Helmut„-Rufen unterbrochen wurde und der Bundeskanzler ein Gähnen nicht unterdrücken konnte. Krack nannte die Öffnung des Brandenburger Tors einen „historischen Schritt bei der Gestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen“. Und fuhr dann ein wenig unbeholfen fort: „Peripherien werden zur Mitte, Grenzen öffnen sich, Welten öffnen sich.“

Der Sieg der Symbole war inszeniert. Das Fernsehen übertrug live nach dem bewährten Strickmuster: Bürgeremotion war gefragt. „Das Bollwerk ist gefallen, jetzt fällt auch die DDR“, durfte ein junger Spunt in die Kamera des SFB brüllen. Und das obligatorische Weinen einer Frau war auch dabei. Peinliche Wiederholung von Gefühlen, die bestenfalls in der Nacht des 9. November authentisch waren. Wie schön, daß wenigstens ein Teil der Live-Schaltung von einer Tonstörung sabotiert und die Reporterin einfach von der Menge weggedrückt wurde.

Tausende waren gekommen, um an diesem Tag durchs Tor zu gehen. Noch ist die Quadriga oben drauf. Und noch steht sie falsch herum. Nach der letzten Renovierung hatten die Sowjets die westlichen Alliierten ausgetrickst und sie mit Fahrtziel Osten obenauf gesetzt. Die Grenzübergänge waren gestern faktisch nicht mehr da. Die Mauer war nur noch dazu da, über sie zu klettern.

Durch matschige Wiesen, durch die verregnete Brache vor dem Brandenburger Tor bahnten sich Tausende den Weg, einige mit Klappstühlen, mehr aber mit Schirmen ausgerüstet. Wie schwere Tropfen hingen Menschen in den Baumskeletten, manche in eine Fahne gehüllt. An der Mauer entlang wurde emsig gemeißelt, postkartengroße Stücke für 10 bis 20 DM verkauft. Parolen, Malereien und Liebesschwüre gehen in die Geschichte ab und zieren bald die Schrankwände.