Die Quadriga trägt keinen Venusspiegel

■ Die Schriftstellerin Pieke Biermann hält die Umwälzungen im Osten „mitnichten“ für einen Paradigmenwechsel / „Der Status quo der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern bleibt unangetastet wie in bisher jeder Revolution“

Ich bezweifele, daß sich das Leben und die Geschichte an das Dezimalsystem halten. Umbrüche passieren nur selten an den Wechseln von Neun auf Null. Auch 1933 hat kein Jahrzehnt begonnen, sondern geplante tausend Jahre, die dann auf zwölf eingedämmt werden konnten. Und von denen war jede Sekunde zuviel.

Was 1789 als Vision von einer menschenwürdigeren Welt in die Geschichte injiziert wurde, ist 200 Jahre später noch uneingelöst. Zwar gilt heute nicht mehr die Guillotine als „der letzte Schrei“, zumindest nicht in jener schmalen Region, die sich unter dem Namen Europa zum weltweiten Geschichtsmonopol aufgeworfen hat. Aber noch immer wird „der Mensch“ nach männlichen Maßen zugeschnitten und hat seine Methoden, die, die nicht „Brüder“ werden können, weil sie „Schwestern“ sind, aus der tete der Revolutionstruppen zu verjagen, sobald die Revolution geschichtsmäßig zu werden droht. (Tete übrigens mein Kopf, nicht nur in der militärischen Sprache...)

Nach dieser Methode funktioniert auch, was sich derzeit im europäischen Osten umwälzt und fälschlich als Paradigmenwechsel gefeiert wird. Auch hier vom Dezimalsystem keine Spur: Gorbatschow entließ den Entwurf „Glasnost/Perestroika“ nicht in einem Jahr Null in die Sowjetunion. Die Einführung des Kriegsrechts und der spätere geordnete Rückzug der kommunistischen Machtblockwarte in Polen erfolgten ebenfalls nicht zu einem solchen Datum.

Die ersten Lauf-Maschen in den Fangnetzen der ungarischen Westgrenze wurden vor Jahren präpariert. Die namhafteste Opposition in der CSSR heißt nicht Charta 77, weil das die Zahl ihrer Mitglieder wäre. Und auch der reinkarnierte Graf Dracula schaffte allenfalls seinen Abgang pünktlich zu dieser Jahrzehntwende; sein Terrorregime installiert hatte er mitten in einem anderen. All das plus die zufällig ausgefeilte Übertragungs- und Empfangstechnik des Fernsehens waren der Boden, auf dem in der DDR mit den Abrißarbeiten am Status quo begonnen wurde.

Paradigmenwechsel? Mitnichten! Der Status quo der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern blieb unangetastet wie in bisher jeder Revolution. Bisher spielt die alte Leier von der Ablösung der Väter durch die Söhne, allen Alibifrauen zum Trotz. Und der schnelle, grelle Leipziger Schrei nach dem „Vaterland“ ist nur noch logische Folge davon und überdies lediglich das Echo eines Gequackels, das seit einer anderen Wende aus Bonn durch den Äther plärrt: daß es „das Nationale“ gebe - als „Recht, auch für die Deutschen“ (wer immer die sein mögen). Und demnächst dann womöglich wieder als Pflicht...

Es hat ein paar Jahre gedauert, aber dann hatte auch der moderne, linke Zeitgeisterreiter aus der Bundesrepublik intus, daß „Nationalgefühl“ angesagt ist: als „Bindemittel“ für Gesellschaften. Und da die Linke hierzulande nichts mehr scheut als den Verdacht, „vaterlandslose Gesellen“ zu sein, plappert sie munter weiter vom „Nationalgefühl“, wo es lediglich um ein völlig legitimes Zugehörigkeitsgefühl zu einer ethnisch/kulturellen Gruppe geht. Und so plappern sie gemeinsam, rechts und links und östlich und westlich, vom „Volk“, das „eins“ und vor allem „deutsch“ ist, und haben ganz erfolgreich vertuscht, daß dieses „Volk“ doch wieder nur der allseits reduzierte Gesamtmann ist, der seinen unterrockfarbenen Teint als „weiß“ und sich selbst als „Universalmensch“ mißzuverstehen pflegt und auf Richtlinienkompetenz beharrt.

Dabei sagt ihm seine eigene Geschichtsschreibung heute, daß das die Menschheit samt der Natur an den Rand der Katastrophe geführt hat. Und daß ein wirklicher Paradigmenwechsel her muß: die Aufgabe des Machtmonopols des Weißen Mannes über den Rest der Welt. Aber es steht zu befürchten, daß auch die 90er Jahre weder durch die Reife jener einen noch der anderen Hälfte der Menschheit geprägt sein werden: Letztere müßten sich unter anderem die Finger an der notwendigen Macht schmutzig zu machen bereit sein.

Ach, ginge doch wirklich ein Gespenst um in Europa! Und hieße es Feminismus! Vorerst wird man bescheiden bleiben müssen, und nicht einmal die Quadriga auf dem nun geöffneten Brandenburger Tor wird statt des lächerlichen Eisernen Kreuzes und des Preußischen Talmiadlers einen Venusspiegel in der Hand halten dürfen. Vorerst wird man auch davon nur träumen können, daß leibhaftige Adler sie im freien Flug begleiten. Ach, wer da mitfliegen könnte...

Pieke Biermann