Das königliche Spiel: Spiel der Dame?

■ Die Wandlung der Dame vom langsamen Berater zur schnellen Beherrscherin des Schachbretts

Ursula Siebert

Das Schachspiel ist in Indien entstanden und kann auf eine lange Tradition zurückblicken, die im 7. Jahrhundert n.Chr. in der indischen Literatur erstmals belegt wurde. Als Spiegelbild der Kunst- und Kulturgeschichte, in Abhängigkeit von Raum und Zeit veränderte sich im Laufe der Zeit die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung des Spiels ebenso wie seine Spielregeln und die Gestaltung seiner Figuren.

Den wohl größten Bedeutungswandel in dieser Entwicklung hat die Dame erfahren als einzige weibliche und gleichzeitig wichtigste Figur auf dem Schachbrett. Der König ist zwar auch nach der großen Spielreform im 15. Jahrhundert die entscheidende Figur im Spiel geblieben, dennoch ist er auf den Schutz der schnellen Dame angewiesen. Ihr Verlust im Spiel kommt fast einer Niederlage gleich.

Die starke Position der Dame ist jedoch längst nicht so alt wie das Schachspiel selbst. Im indischen Vierschach, das sich vermutlich schon im 4. Jahrhundert v.Chr. als Abbild der indischen Heeresaufstellung und der Waffengattungen entwickelte, spielten auf jeder Seite zwei Könige. In der Entwicklung zum Zweischach, etwa seit dem 6. Jahrhundert n.Chr., wurde einer der beiden Könige zum Berater degradiert, der sich nur jeweils ein Feld auf dem Brett fortbewegen durfte.

Von Indien gelangte das Spiel über Persien nach Arabien, von dort nach Europa. Der König hieß im persischen Spiel „Shah“, von dessen Name sich heute der Begriff „Schach“ ableitet. Aus dem Berater wurde bei den Arabern der „fers“ oder „firzan“, ohne zunächst seine beschränkte Bewegungsmöglichkeit im Spiel zu ändern. Diese wurde erst in Europa einer tiefgreifenden Veränderung unterworfen, die in den Regeländerungen der „großen Spielreform“, wie sie die SchachhistorikerInnen nennen, im 15. Jahrhundert ihren Höhepunkt fand. Der Bewegungsdrang der Dame wurde auf die Diagonale, die Horizontale und Vertikale festgelegt, ungeachtet der Anzahl Felder, die sie bei einem Zug überquert.

In Europa wurde das Schachspiel zunächst noch nach arabischen Regeln gespielt. Die arabischen Figurenbezeichnungen jedoch wurden nicht immer richtig verstanden. So wurde aus dem arabischen „fers“ oder „firzan“ zunächst „fierge“, später französisch „vierge“ (deutsch: Jungfrau) und schließlich „Königin“. Die „Dame“ verdrängt die Königin in Deutschland erst im 18. Jahrhundert, einer Zeit, in der die Aufklärung und die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft den Absolutismus und die Macht der Monarchie verdrängte. So haben diese gesellschaftlichen Prozesse vermutlich auch ihren Einfluß auf die Namensgebung der Damefigur gehabt.

Die brennende Frage für die Schachhistorie war und ist, aufgrund welcher Faktoren die große Schachreform in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts initiiert wurde, einer Zeit des ausgehenden Mittelalters, in der Europa einem tiefgreifenden politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Wandlungsprozeß unterworfen war. Der Feudalismus steckte in einer Krise, die selbst auf dem Schachbrett eine Schwächung des Königs zur Folge hatte. Der berühmte Schachhistoriker Antonius van der Linde (1874) vermutete vage einen Zeitgenossen von Kolumbus als Urheber der Reform, in der Gewißheit, daß es sich um einen Mann gehandelt haben müsse. Er bestreitet, daß die Erstarkung der Dame auf dem Schachbrett als Emanzipationsbestrebung der Frau zu verstehen sei: die Königin habe sich lediglich in Abhängigkeit zum König aus dem ehemaligen Wesir entwickelt. Van der Linde steht mit seiner Überzeugung im Trend seiner Zeit, nach dem die Frau nur in Abhängigkeit zum Manne definiert wurde. Jeanne d'Arc und Mutter Maria

Andere sehen die gesellschaftlichen Zeitumstände als Ursache für die Veränderungen im Schachspiel, die sich bereits über Jahrhunderte vorbereitet hatten. Die einen sehen in den neuen Bewegungsabläufen von Dame und Läufer auf dem Schachbrett ihre Entsprechungen in den weitreichenden Schiffsrouten, die die Seefahrer nach Afrika und in die „Neue Welt“ führten. Andere wollen in bedeutenden historischen Persönlichkeiten die Urheberinnen des Bedeutungszuwachses der Dame erkennen, so z.B. Isabella von Kastilien (1451-1504) oder Jeanne d'Arc (1412-1431), die einen solchen Eindruck auf ihre Zeitgenossen gemacht habe, daß sie der Dame im Schachspiel zum Vorbild wurde. Sprachwissenschaftlich wäre so die Entwicklung vom „fers“ zur „vierge“ durch die Person der „Jungfrau von Orleans“ begründet.

Eine der aktuellsten und umstrittensten Hypothesen liefert der Schachhistoriker Petzold, der einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Schachdame und der Marienverehrung, die im ausgehenden Mittelalter ihren Höhepunkt erreichte, sieht. Die Mutter Gottes, Königin des Himmels und in Frankreich „Notre Dame“ genannt, habe vermutlich den entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der Dame im Schachspiel gehabt und erkläre zusätzlich den Begriffswandel von der Königin zur Dame. Die Gestalt der Dame

Als Schachfigur erscheint der „mantri“ (Sanskrit: Berater) im indischen Zweischach sowie in den stilisierten arabischen Figuren in der Regel als kleinere Ausführung des Königs. In konventionellen und nicht figürlichen Spielen aus Europa wird die Damefigur durch Größe, Qualität der Schnitzerei und durch bestimmte Attribute gekennzeichnet. Ihre Dekoration ist im Vergleich zur Königsfigur weniger aufwendig. Die Dame ist trotz ihrer Bedeutung im Spiel meistens kleiner als der König, oder nur selten gleich groß. In figürlichen Spielen aus aller Welt ist die Dame in der Regel als Figur in Frauenkleidern gestaltet. In historischen Spielen, die oft historische Persönlichkeiten in einer kriegerischen Auseinandersetzung darstellen, sind die Damen die Angetrauten der Könige oder Generäle, selten auch deren Mütter - eine psychologisch interessante Variante, der die Vorstellung zugrundeliegt, nur der älteren Frau als Mutterfigur könne die Macht über den Verlauf des Spieles und über das Schicksal des Königs, ihres Sohnes, zugestanden werden.

In den Staunton-Figuren aus Holz, die heute als Standard gelten, wird die Dame durch die Adelskrone des Barons (als Vertreter des niederen Adels) markiert; in ihren konventionellen englischen Vorläufern durch Straußenfedern, durch eine Kugel, durch eine Lilienblüte u.a.

Die Frage nach dem Ursprung und der Verbreitung des Schachspiels wurde und wird begleitet von phantasievollen Legenden und Anekdoten, die die Königin Semiramis von Babylon und die Kaiserin von Palmyra zu seinen Erfinderinnen werden lassen. In seinem Epos „Scacchia Ludus“ beschreibt der Bischof Marco Vida im Jahre 1527 den angeblichen Weg des Spiels von den Göttern zu den Menschen: Als Geschenk für geleistete Liebesdienste habe der Göttervater Zeus der Flußnymphe Scacchis (lateinisch: Schach) ein Schachbrett samt Figuren dargebracht und sie das Schachspiel gelehrt.

In der Legende verhalfen Frauen dem Schachspiel zu Ausbreitung und Ansehen. Tatsächlich spielen sie schon seit Jahrhunderten Schach, konkurrieren mit Männern und zeigen sich häufig als die überlegenen Spielpartnerinnen.

Arabische Frauen spielten schon früh Schach. Der Verkaufswert der Sklavinnen steigerte sich entsprechend ihrer Bildung. Hierzu gehörte es, ein einwandfreies Arabisch zu sprechen und das Schachspiel zu beherrschen. Im europäischen Mittelalter galt das Spiel in höfischen Kreisen als beliebte Freizeitbeschäftigung. Die Erziehung der Mädchen sah unter anderem deren Unterweisung in der Kunst des Schachspiels vor. Weder Frauen noch Männern schien es ungewöhnlich, miteinander Schach zu spielen, wie viele Beispiele aus der bildenden Kunst belegen. Dilaram und der Großwesir

Das Schachspiel verlangte hohe Einsätze, und es kam vor, daß Männer ihre Frauen aufs Spiel setzten. Dies wurde zum Thema zahlreicher Anekdoten, in denen Frauen sich selbst oder andere durch ihr Geschick retteten. So flüsterte Dilaram, die Lieblingsfrau des Großwesirs, diesem die entscheidenden Züge zu und rettete damit ihr Schicksal, das auf dem Spiel stand. Hier drängt sich die Parallele zwischen den eingreifenden Frauen in der Legende auf, die dem Mann zum Sieg verhelfen, und der Abhängigkeit des Mannes von der Frau heute, die ideologisch verzerrt ihren Ausdruck in der Glorifizierung der weiblichen versteckten Diplomatie findet, ihr aber dennoch keine öffentliche Entscheidungsgewalt zugesteht. Unter veränderten Vorzeichen hätte Dilaram nämlich gleich selbst die Partie mit dem Gegner Muwardis als die bessere Spielerin spielen können.

Im Zeitalter des Barock und des Rokoko behielt das Schachspiel am Hofe seine Bedeutung als Unterhaltungsspiel, an dem sich Frauen rege beteiligten. Mit der Zeit und besonders nach der Französischen Revolution entwickelte sich das Spiel jedoch mehr und mehr zum bürgerlichen Vergnügen und verlagerte seinen Schauplatz in Kaffeehäuser und Klubs. In dem Moment, als das Unterhaltungsspiel zum Wettbewerb wurde und in Turnieren und Meisterschaften an die Öffentlichkeit trat, sind Frauen nicht mehr präsent, wenn sie auch die eine oder andere Partie gespielt haben mögen. Die bürgerliche Ideologie propagiert das Bild der Frau als Hausfrau und Mutter. Der Ausschluß der bürgerlichen Frau aus der Öffentlichkeit kommt im 19. Jahrhundert deutlich zum Tragen und findet seinen Niederschlag auch in dem Ausschluß der Frau vom öffentlichen Schachspiel. So finden die ersten Schachturniere und Meisterschaften im 19. Jahrhundert ausschließlich unter Männern statt.

Die Aufnahme in Schachklubs wurde Frauen nur mit wenigen Ausnahmen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast unmöglich gemacht; einer Zeit, in der die bürgerliche Frauenrechtsbewegung bereits auf eine lange Tradition blicken konnte und im Blickfeld der Öffentlichkeit stand. Schließlich organisierte der Internationale Schachbund in den zwanziger Jahren, in denen Frauen mehr und mehr Zugang zu Sportklubs und Vereinen gewährt wurde, im Jahre 1927 parallel zur Schacholympiade der Männer die erste Meisterschaft für Frauen, an der zwölf Frauen aus sieben europäischen Ländern teilnahmen.

In der UdSSR schenkte man dem Frauenschach im Vergleich zum Westen wesentlich größere Aufmerksamkeit. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg rückte die Sowjetunion an die Spitze des internationalen Frauenschachs. Die erste Frauenolympiade wurde im Jahre 1957 in den Niederlanden ausgetragen, und UdSSR-Spielerinnen und Rumäninnen teilten sich den ersten Platz. Heute konkurrieren neben den sowjetischen Spielerinnen Frauen aus vielen europäischen Staaten und besonders auch aus China miteinander.

Die positive Entwicklung im Frauenschach darf nicht über die allgemeinen Vorurteile hinwegtäuschen, denen schachspielende Frauen begegnen. Männliche Schachmeister meiden es in der Regel, gegen Frauen zu spielen. So schreibt die frühere Weltmeisterin Nona Gaprindaschwili in ihrer Autobiographie Ich liebe das Risiko von 1976: „Männer schämen sich, gegen eine Frau zu verlieren - und sei es die Weltmeisterin selbst. Sie spielen gegen mich mit all ihrer Kraft - selbst mit dem Risiko, die nächste Partie infolge Übermüdung zu verlieren.“

Literatur: Petzold, J., Schach - eine Kulturgeschichte, Leipzig, Edition Leipzig 1986

Siebert, U. et al., Schachspiele - Wandel im Laufe der Kunst - und Kulturgeschichte, (Privatsammlung Jaeger), Neu-Ulm, I.P.A. Verlag GmbH 1988