DER BÄR AM SPANDAUER DAMM

■ Die Nacht der Nächte - erlebt im Taxi

Meine erste Fahrt am Silvesterabend geht in den Osten. Meine erste „Ostfahrt“ überhaupt. Die Frau, die ich gegen halb sechs in der Sonnenallee abhole, trägt einen schweren Pelzmantel und eine Unmenge Penny-Plastiktüten. Sie will am Prenzlauer Berg ihre Verwandten besuchen. „Die habe ich zuletzt gesehen, als ich neun Jahre alt war.“ Sie ist weitsichtig und hält einen Stadtplan auf einen halben Meter Abstand. In einer stockdunklen Straße liefere ich sie ab. Sechs Mark Trinkgeld.

Den ersten Besoffenen des Abends nehme ich ich in der Hedemannstraße auf. Zum ersten Mal am Brandenburger Tor vorbei, wo schon mächtiges Verkehrschaos herrscht. Mein Fahrgast trägt ein rundes Narrenkäppi, schwadroniert über den Verkehr. Auf dem Rückweg aus dem Wedding läßt sich eine rotbemäntelte, sorgfältig geschminkte Dame ins Cafe Keese bringen. Kurz vor der Martin-Luther-Straße zwängen sich drei kleine Schwedinnen und eine junge Australierin in den Wagen. Zum Hotel Ibis am Messedamm. Die Mädels löchern mich auf Englisch mit Fragen, wie sie kurz vor Mitternacht zum Brandenburger Tor kommen. Sechs Mark Trinkgeld. An einer Ampel springt ein französisches Pärchen in den Wagen. Ich habe noch nie so viele Franzosen wie seit dem 9. November transportiert. Ich frage sie immer, ob sie sich wegen der drohenden Wiedervereinigung Sorgen machen. Die meisten verneinen, sind euphorisch. Ich glaube ihnen nicht so ganz.

Gegen 10 Uhr komme ich wieder am Hermannplatz an. Die Taxis gehen weg wie warme Semmeln. Binnen einer Minute bin ich der zweite Wagen. Ein dünner junger Mann steigt bei mir ein nicht besoffen. Ich fordere ihn auf, bei dem Kollegen vor mir einzusteigen, es muß ja schließlich alles seine Ordnung haben. „Det is 'ne Nichtroochertaxe“, fährt er mich an. Also fahr ich los - die Sonnenallee runter. Wenn er nicht mehr rauchen könne, sei es ganz zu Ende mit ihm, habe ihm sogar der Arzt gesagt. Schon zwei Lungenentzündungen und nur noch eine halbe Lunge. Beißender Qualm von Schwarzem Krausen steigt auf. Raketen zischen von den Balkonen. „Ick versteh det nicht, mindestens 'ne Milliarde jagen die in die Luft, was man mit dem Jeld alles für vernünftije Sachen machen könnte, aber meine Kinder machen det nicht, die essen lieber Kuchen, jeden Tag. Unser Bäcker packt uns oft 'ne janze Platte voll mit dem Kuchen von jestern - für 'n Fünfer.“

Auf der Rückfahrt werde ich am Herzbergplatz abgewunken. Ein sportlich gekleideter Mann in mittleren Jahren steigt ein. Er will zum Brandenburger Tor und schwärmt vom Neujahrslauf am nächsten Tag. „Das kann man sich nicht entgehen lassen, sind ja bloß sechs Kilometer. 20.000 wollen kommen.“ Sieben Mark Trinkgeld.

Ab 23 Uhr gehen alle Touren zum Brandenburger Tor. Ich fahre nur noch unter der Bedingung Umweg. In einem großen Bogen um die Siegessäule - am Moabiter Knast vorbei, wo mittlerweile ziemlich viel Polizei aufgefahren ist - über den letzten verbliebenen Schleichweg, die John-Foster-Dulles -Allee bis zur Ecke Simpsonweg. So manchem wird angst und bange beim Blick auf den Zähler. Die letzte Fuhre zum Brandenburger Tor bekomme ich um 4 Minuten vor 12. Vier Jungens in der Ansbacher Straße überlisten mich. Ob ich bereit wäre, zum Spandauer Damm zu fahren, wenigstens in die Nähe. Ja natürlich, gern, antworte ich. Als sie eingestiegen sind, erzählen sie mir, es sei fast unmöglich geworden, ein Taxi zum Spandauer Damm zu finden. Die Fahrer hätten sich alle geweigert. Ich werde stutzig. Was denn los sei am Spandauer Damm? Ja, da sei der Bär los. Wenigstens in die Nähe bis zum Kreisel würden sie gern kommen bis Mitternacht. Resigniert nehme ich wieder Kurs auf Goldelse und den Kreisverkehr um die Siegessäule. Für den großen Bogen ist es zu spät, also direkt in den Stau. Etwa 300 Meter vor der Säule und gut einen Kilometer vor dem Tor geht nichts mehr. Über Funk schreit jemand 4, 3, 2, 1, 0. Die Fahrgäste steigen aus und umarmen sich. Auf dem Zähler stehen 8.80 DM. Der junge Mann, der neben mir saß, gibt von draußen 20 DM in den Wagen und schreit durch den infernalischen Lärm: „Stimmt so, ich habe einem anderen Taxifahrer vorhin 50 DM geboten, und er wollte uns trotzdem nicht hierherbringen.“ Hinter der Säule in über einem Kilometer Entfernung ziehen die Raketen krakelbunte filigrane Linien in den hellen Nachthimmel. Von hier aus sieht es wunderschön aus. Neben mir steht ein Polizeiwagen. Die mit Luftschlangen übersäten Uniformierten gucken andächtig auf das Spektakel. Die Autofahrer steigen auf ihre Vehikel ringsum. Die Funkvermittlung wünscht allen Taxifahrern ein fröhliches neues Jahr, aber kaum einer antwortet.

Nach circa fünf Minuten löst sich der Stau wieder auf. Der Bereich vorm Brandenburger Tor ist jetzt abgeriegelt. Mein erster Fahrgast im neuen Jahr ist ein alter Mann, der vom Richard-Wagner- zum Klausener Platz wollte. 5,20 DM kostet die Fahrt. Mit zittriger Hand und nach langem Zögern gibt er mir 30 Pfennig Trinkgeld. Vom Richard ruft man mich in eine Kneipe. Die Kundin, eine Südamerikanerin, steht schon an der Tür. Mit rauher Stimme fordert sie einen Mann auf - der wie ein Sandsack auf seinem Barhocker hängt -, sie zu begleiten. Auf den Tischen liegen Pfannkuchen und Luftschlangen. Noch einmal lockt sie den Sandsack. „Kommst du mit?“ ruft sie. „Nein, er kommt nicht mit“, keift die Frau an seiner Seite.

An der Kochstraße gegen 1 Uhr fahre ich zwei junge Frauen in die Wrangelstraße. Am Oranienplatz fährt eine Wannenkolonne auf. Als wir in die Wrangelstraße einbiegen, wird dort gerade ein Geschäft geplündert. Auf einmal ist die Straße von einem brennenden Haufen versperrt. Mit gemischten Gefühlen fahre ich drüber weg, irgend etwas schleift noch eine Weile am Hinterrad mit.

Bei Karstadt am Hermannplatz fängt mich eine Oma ab. Ein riesiger junger Mann im Zottelpelz, der auch nach einem Taxi Ausschau hält, springt auf sie zu, als wolle er sie umwerfen. An ihrem Mantel kommt er zum Stehen. „No“, brüllt er die Alte an, die sich überhaupt nicht beirren läßt und schnell einsteigt. Steif und schweigend sitzt sie im Fond und starrt ins Nichts. Das rechte Seitenfenster ist einen Spalt auf, und ich frage sie, ob ihr kalt ist. Sie antwortet nicht. Im Rückspiegel sieht es im blassen Licht der vorbeisausenden Straßenlaternen so aus, als hätte sie einen Herzschlag erlitten. Mir wird angst und bange. Erst kurz vor dem Ziel sagt sie, ich müsse jetzt rechts abbiegen. Ich bin erleichtert, sie ist nur schwerhörig.

Die Fahrgäste, die zwischen 2 und 4 Uhr bei mir einsteigen, kommen durchweg von scheinbar wenig erfreulichen Silvesterfeiern. Das letzte Paar gabele ich in einer einsamen Gegend in der Nähe des Ostpreußendamms auf. Obwohl stark alkoholisiert, sind sie mißgelaunt. Der Mann schweigt. Nur die Gattin gibt Zeichen des Unmuts von sich. „Hast du die Katze gesehen. Das war gar keine richtige Katze. Sie sah aus wie ein Schwein und gleichzeitig wie ein Hund. So was Scheußliches habe ich selten gesehen.“

JoWi