Was weiß ich?

■ Über die Relativität der wirklichen Wahrheit * "Handbuch des nutzlosen Wissens"

„Wissen ist Macht, wir wissen nichts, macht nichts“ - an diesen Grafittispruch mag der Leser bei der Lektüre des kürzlich erschienenen Handbuchs des nutzlosen Wissens denken. Mit viel Fleiß hat der Autor Hanswilhelm Haefs all das zusammengetragen, was ihm bei seiner Arbeit als Übersetzer, Herausgeber und Schriftsteller an Kuriosem aufgefallen ist. Dabei herausgekommen ist eine Art Antilexikon, oft ein Affront gegen das traditionelle Bildungsbürgerwissen. Darin liegt wohl auch der Grund für die ständige Verunsicherung, die der Leser verspürt, vor allem wenn es um berühmte Personen der Weltgeschichte geht. Kann es denn stimmen, daß der Sonnengott LudwigXIV. in seinem Leben nur dreimal gebadet hat und daß ihm ein Zeh abgefallen ist, als er sich eines Tages die Strümpfe auszog? Daß Dostojewski Fußfetischist war? Daß Königin Christine von Schweden mit einer winzigen Kanone auf Flöhe geschossen hat? Daß König Edward II. von England eines unnatürlichen Todes gestorben ist, weil ihm sein Liebhaber ein glühendes Schüreisen in den Hintern geschoben hat? Und daß Florence Nightingale schwere Hypochonderin war und wegen eines vermeintlichen Herzleidens die letzten 54 Jahre ihres Lebens im Bett verbracht hat, paßt auch nicht zu dem Bild, das uns Schulbücher von dieser Dame vermitteln. War Jahwe, der Gott des Alten Testaments, ursprünglich wirklich der „Esel -köpfige Gott der Esel-züchtenden ur-hebräischen Eselsnomaden“, und sind die religiösen Beteuerungen „Amen“ und „Halleluja“ nichts anderes als bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Echos ritualisierter Eselsschreie?

Auch dem nüchternen Leser unseres technischen Zeitalters kommen oft Zweifel an der Glaubwürdigkeit. Haben die Chinesen das Differentialgetriebe tatsächlich bereits vor Christi Geburt und einen Tachometer im Jahr 1027 erfunden? Da mag schon eher stimmen, daß es statistisch unter Psychiatern doppelt so viele Selbstmorde wie unter ihren Patienten gibt, daß auf der Hautoberfläche eines Menschen doppelt so viele Lebewesen existieren wie Menschen auf der Oberfläche der Erde, daß Schottland Sand nach Saudi-Arabien exportiert und daß in den USA ein Mann namens Al Cohol wegen Trunkenheit verurteilt wurde.

Haefs zeigt uns aber auch, daß selbst wissenschaftliche Erkenntnisse „nutzloses Wissen“ darstellen, etwa die Feststellung, daß der erigierte Penis eines Elefanten im Durchschnitt 60 Pfund wiegt.

Überhaupt wird der Leser immer wieder mit der Frage nach der Gültigkeit wissenschaftlicher, meist historischer Erkenntnisse und der Relativität der Begriffe Wahrheit und Wirklichkeit konfrontiert. Schließlich hat sich immer wieder vieles von dem, was über Jahrhunderte als absolut wahr galt, als falsch oder sogar als bewußte Fälschung herausgestellt. Insofern wirft das Buch, von dem eigentlich Antworten erwartet werden, immer wieder Fragen auf. Gibt es nicht letztlich immer nur viele Wahrheiten, viele Wirklichkeiten?

Haefs selbst beschreibt diese Problematik in seinem philosophisch-kritischen Nachwort mit der Metapher des Kaleidoskops. So wie das Kaleidoskop aus denselben Glasstückchen neue visuelle Konfigurationen hervorbringt, so können aus Wortfigurationen und ihren Inhalten beim Adressaten neue Bewußtseinsfigurationen und neue „Realitäten“ entstehen. Das Vertraute erscheint in einem neuen Licht. Gewohntes findet sich in diesem Buch ohnehin nur wenig, aber vielleicht gerade deshalb viel Nachdenkenswertes und, was den Reiz und das Vergnügen bei der Lektüre noch steigert, viel Unterhaltsames - ein intellektuelles Kaleidoskop nutzlosen (?) Faktenwissens.

Klaus Hunold

Hanswilhelm Haefs: Handbuch des nutzlosen Wissens. München 1989, 212 S., DM 9,80.