Die Mauer

■ Zur Mauerdiskussion in der SED

Seit Wochen gleichen sich die Bilder: 'Mauerspechte‘ schleifen mit Hammer und Meißel die westliche Seite des Berliner Bauwerk, dieses Stein gewordenen Symbols der Teilung Europas. In den Medien tausendfach reproduziert, vermittelt sich eine visuelle Wahrheit, die gleichgesetzt wird mit dem Abbau dieser außergewöhnlichen Grenzanlage. Davon aber kann keine Rede sein. Genausowenig wie davon, daß diese Grenze in eine verwandelt worden ist, die mit dem Adjektiv normal treffend beschrieben werden könnte. Die Mauer durch Berlin - egal wieviele Grenzübergänge in den letzten Wochen neu eröffnet wurden - kann in wenigen Stunden wieder dichtgemacht werden. Denn abgesehen davon, daß jedes größere Loch in der 165 Kilometer langen Betongrenze auf der West-Berlin zugewandten Seite von den DDR-Grenztruppen wieder mit Eisenplatten abgedichtet wird, ist es ein doppeltes Bauwerk, mit einem dazwischen liegenden Grenzstreifen, der zwischen 20 und 50 Meter breit ist.

Warum steht die Mauer noch? Eine Antwort, die lediglich darauf verweist, daß es schließlich eine Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten - beziehungsweise zwischen Ost- und West-Berlin - geben muß, reicht jedenfalls nicht aus. Die Mauer ist nicht nur in baulicher, sondern auch in politischer Hinsicht immer noch mehr als eine Grenze, und zwar im doppelten Sinn. Nicht nur aus der Ungleichzeitigkeit des inneren Reformprozesses in den osteuropäischen Ländern läßt sich erklären, warum mit dem Abbau der Grenzanlagen zwischen der CSSR und Bayern zügig begonnen werden konnte, während die DDR die Mauer lediglich öffnete. Gerade im Verhältnis zu den beiden deutschen Staaten hat die Sowjetunion, auch von 1990 aus gesehen, ein vitales politisches Interesse daran, alle Instrumente zu erhalten, die ihr ein Mitspracherecht bei der zukünftigen Gestaltung von Berlin, von Deutschland auch als Ganzem sichern. Mauer und Vier-Mächte-Abkommen sind dafür Faustpfand. Insofern hängt politisch gesehen das Schicksal der Mauer in entscheidendem Maße von der Zukunft des Reformprozesses in der Sowjetunion, vom politischen Schicksal Gorbatschows ab.

Hinzu kommen jedoch gegenwärtig restaurative Tendenzen innerhalb der DDR-Regierungspartei SED, die niemand unterschätzen sollte. Dazu gehört der sprachliche Rückgriff auf die Mauer als 'antifaschistischem Schutzwall‘ des SED -PDS-Vorsitzenden Gregor Gysi bei einer Kundgebung gegen rechtsradikale Tendenzen in der DDR und der Kommentar auf Seite eins des Parteiorgans 'Neues Deutschland‘ vom letzten Samstag, in dem wenn auch in Ironie verhüllt die Mauer als Schutz für nötig befunden wird. Antifaschismus und Schutzwall sind die beiden zentralen ideologischen Begriffe mit denen immer schon im Zusammenhang mit der Mauer und ihrer Notwendigkeit von der SED operiert wurde. Die Opposition in der DDR und die Deutschlandpolitiker hier sollten vor lauter Einheitseuphorie dies bei ihren weiteren Gesprächen mit der SED bedenken, sonst gibt es noch ein böses Erwachen.

Max Thomas Mehr