Haiti oder ein Schrecken ohne Ende

■ Die Aufbruchsstimmung in Osteuropa hat den karibischen Alptraum aus den Schlagzeilen verdrängt

Hans Christoph Buch

Seit dem Sturz der Diktatur im Februar 1986 und der Flucht von Jean-Claude Duvalier, genannt Baby Doc, ins französische Exil hat sich auf Haiti nicht viel verändert. Im Gegenteil: die Unterdrückung jeglicher Opposition und die Ausplünderung der unter dem Existenzminimum vegetierenden Bevölkerung hat noch brutalere und raffiniertere Formen angenommen. Die Tonton Macoutes, Papa Docs berüchtigte Killertruppe, sitzen nach wie vor an den Schalthebeln der Macht und dirigieren als Schattenkabinett hinter den Kulissen die Marionetten der haitianischen Politik. Das Regime des im September 1988 durch einen Militärputsch an die Macht gelangten Generals Prosper Avril hat dem eigenen Volk den Krieg erklärt. Nach dem Massaker unter der Zivilbevölkerung am letzten Wahltag, dem 29.November 1987, glaubt hier niemand mehr an das Versprechen der regierenden Militärs, im Februar 1991 demokratische Wahlen abzuhalten. In der Hauptstadt Port-au -Prince herrscht de facto Belagerungszustand: seit Wochen wird gestreikt; tagsüber explodieren Knallfrösche, nachts sind Schüsse zu hören. Nach Einbruch der Dunkelheit wagt sich niemand mehr auf die Straße. Die allgemeine Unsicherheit wird durch ständige Wasser- und Stromausfälle noch vergrößert. Jeden Abend geht in irgendeinem Stadtteil von Port-au-Prince das Licht aus. Die Lebenshaltungskosten sind ins Unermeßliche gestiegen; US-Dollars, die früher zum festen Wechselkurs eingetauscht werden konnten, sind nur noch zu Schwindelpreisen auf dem Schwarzmarkt erhältlich. Diebstähle, Einbrüche und bewaffnete Überfälle sind an der Tagesordnung, und das politisch motivierte Morden geht weiter. Der Terror der Todesschwadronen richtet sich gegen Mitglieder aller Parteien, Konservative wie Linke, in der Hauptstadt Port-au-Prince ebenso wie in den Provinzen: immer mehr Menschen verschwinden spurlos, oder sie werden, zu Tode gefoltert und verstümmelt, irgendwo aufgefunden. Auch wenn das Ausmaß des staatlich sanktionierten Mordens in Haiti nicht zu vergleichen ist mit den Opfern der Bürgerkriege im Libanon oder in El Salvador, offenbart es doch eine selbst für hiesige Verhältnisse erschreckende neue Qualität. Hierfür zwei Beispiele.

In der Nacht vom 17. auf den 18.November wurden drei Anhänger des durch den Militärputsch gestürzten Ex -Präsidenten Leslie Manigat, während sie an einer Ausfallstraße im Norden von Port-au-Prince Plakate klebten, von bewaffneten Zivilisten umstellt, die aus einem nicht gekennzeichneten Militärfahrzeug stiegen. Ein viertes Mitglied der Gruppe, dem es gelang, sich unter einem geparkten Lkw zu verstecken, mußte aus nächster Nähe mitansehen, wie zwei seiner Kameraden krankenhausreif geschlagen wurden. Ein 22jähriger Student, der nach den Mißhandlungen noch lebte, wurde von den Mitgliedern des Kommandos mit einem Strick an das Militärfahrzeug gebunden und auf der Straße zu Tode geschleift. Sein bis zur Unkenntlichkeit entstellter Leichnam wurde am nächsten Morgen von Anwohnern im Straßengraben entdeckt.

Am gleichen Tag erneuerte der Präsident Haitis, General Prosper Avril, in einer von allen Fernsehstationen übertragenen Rede zum „Fest der Armee“ sein feierliches Versprechen, die Menschenrechte zu achten, wobei er die Unverletzlichkeit der Person und das Recht auf unbehinderte politische Betätigung besonders hervorhob. In seiner Ansprache fehlte jeder Hinweis auf freie Wahlen und die Rückkehr zur Demokratie ebenso wie auf die Streikforderungen der Lehrer, Ärzte und Krankenschwestern, die seit Monaten kein Gehalt mehr bekommen hatten; statt dessen wurden neue Kasernen eingeweiht, ein Regen von Orden und Beförderungen ging auf das Offizierskorps nieder, und den Mannschaften wurde der Sold erhöht. Diplomatischen Beobachtern fiel auf, daß die zur Parade angetretenen Truppen während ihres Vorbeimarsches an der Rednertribüne von MG-Schützen der Palastwache in Schach gehalten wurden.

Zweites Beispiel:

Auf der Suche nach einem Ex-Sergeanten der Armee, der nach einem Putschversuch gegen die Regierung in den Untergrund gegangen war, besetzte Anfang November ein Großaufgebot von Polizei und Militär Carrefour, ein Armenviertel im Süden von Port-au-Prince. Soldaten der Palastwache und Angehörige der „Anti-Gang“, einer Spezialeinheit zur Terrorismusbekämpfung, durchkämmten die Hütten der Slums und sogar die Voodootempel, wo in dieser Nacht die „Guedes“ genannten Geister der Toten beschworen wurden. Die Soldaten trieben die verschreckten Anwohner aus ihren Häusern und ließen sie im Gänsemarsch an einem Jeep vorbeidefilieren, neben dem drei mit Handschellen gefesselte Männer am Boden lagen, die von ihren Bewachern mit Kolbenhieben und Fußtritten mißhandelt wurden. Es waren die Gewerkschaftsführer Evans Paul, Etienne Mariono und Jean-Auguste Mesyeux, denen die Regierung vorwarf, Mordanschläge auf den Präsidenten der Republik und den Generalstab der Armee geplant zu haben; als Beweis für die Verschwörung wurde ein umfangreiches Waffenarsenal präsentiert, das angeblich im Innern des Jeeps sichergestellt, nach Aussagen von Augenzeugen aber von Militärs dort deponiert worden war. 24 Stunden später wurden die drei Gewerkschafter mit bandagierten Köpfen und blutig verquollenen Gesichtern in den Abendnachrichten des staatlichen Fernsehens gezeigt. Was auf den ersten Blick wie eine mißlungene Inszenierung erschien, war in Wahrheit genau auf den Propagandaeffekt hin kalkuliert: So wie ein Boxchampion seinen kampfunfähig geschlagenen Gegner dem Publikum „vorführt“, sollte durch die öffentliche Zurschaustellung des Terrors die Opposition eingeschüchtert und mundtot gemacht werden. Wie die Festgenommenen später vor Gericht zu Protokoll gaben, waren sie von Verhörspezialisten der „Anti-Gang„-Brigade rund um die Uhr gefoltert worden, wobei einer von ihnen ein Auge verlor; trotz ihrer Proteste wurde den Inhaftierten ärztlicher Beistand verweigert. Erst als sie in einen unbefristeten Hungerstreik traten, dem sich prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens anschlossen, wurden die drei in ein Militärhospital verlegt. Auch dort waren sie ihres Lebens nicht sicher: für den sich verschlechternden Gesundheitszustand der Häftlinge machte die Militärregierung die von einem Solidaritätskomitee entsandten zivilen Ärzte verantwortlich, gegen die Haftbefehle erlassen wurden: nicht die Täter, die Opfer sind an ihren Leiden schuld. Als der Botschafter Panamas, der als Prozeßbeobachter der Verhandlung beiwohnte, die Gewerkschaftsführer im Gerichtssaal demonstrativ begrüßte, wurde er von der Regierung Haitis zurpersona non grata erklärt und mußte innerhalb von 48 Stunden das Land verlassen; bei seiner Rückkehr nach Panama starb der fünfzigjährige Diplomat unter ungeklärten Umständen - ob er einem Voodoofluch, einem Herzinfarkt oder einer Abrechnung unter Drogengangstern zum Opfer gefallen ist, wage ich nicht zu entscheiden: die panamaische Botschaft in Port-au-Prince galt als Drehscheibe des internationalen Drogenhandelns.

Mit dem gegenwärtigen Konflikt zwischen Washington und Panama hat das Ganze nichts zu tun, im Gegenteil: wenn er nicht aufpaßt, könnte es Alvin P. Adams, dem neuen amerikanischen Botschafter in Port-au-Prince, ähnlich ergehen wie seinem panamaischen Kollegen. Nachdem der US -Diplomat, der bisher im State Department für Terrorismusbekämpfung zuständig war, in seiner auf kreolisch gehaltenen Antrittsrede freie Wahlen und die Respektierung der Menschenrechte gefordert hatte, weigerte sich Prosper Avril, ihn im Palais zu empfangen und sein Beglaubigungsschreiben entgegenzunehmen; bis zu meiner Abreise hatte die Regierung ihm das Agrement nicht erteilt. Eine diplomatische Ohrfeige, die in Haiti Tradition hat: Papa Doc, bei dem Prosper Avril als Chef der Palastwache sein politisches Handwerk gelernt hat, ließ den Sohn des Kommandeurs der US-Marines, Oberst Heinl, aus einem Schulbus heraus kidnappen und im Keller des Palasts internieren, weil der 15jährige abfällige Bemerkungen über sein Regime gemacht hatte. Erst als Oberst Heinl damit drohte, an der Spitze seiner 60 Marines den Präsidentenpalast zu stürmen, ließ Papa Doc den Jungen frei. Nachdem alle Marines das Land verlassen hatten, mußte auch der US-Botschfater seinen Koffer packen und sich bei der Ausreise am Flughafen von Port-au-Prince einer demütigenden Gepäckkontrolle unterziehen. Das war im Frühjahr 1963, zur Zeit von John F. Kennedy, der, wie man sich hierzulande hinter vorgehaltener Hand erzählt, am 22.November, dem Glückstag von Papa Doc, durch Voodoozauber ermordet wurde.

Was in Haiti passiert, soviel wird aus dem Vorangegangenen klar, paßt weder in die Kategorien des Ost-West- noch in die des Nord-Süd-Konflikts; monokausale Erklärungen helfen hier nicht weiter. Das Regime von Prosper Avril ist nicht ferngesteurt von Washington oder Miami; das Elend des Landes ist zu mindestens 50 Prozent hausgemacht. Die haitianische Politik, sagte mir ein führender Intellektueller in Port-au -Prince, unterliegt nicht den Gesetzen der cartesianischen Logik, sondern denen des Surrealismus, der in Haiti schon Wirklichkeit war, lange bevor Andre Breton 1945 die Insel besuchte.

Der folgende Vorfall mit seiner kaum noch zu entwirrenden Verquickung von politischen Intrigen und privaten Interessen bietet hierfür ein Beispiel; zugleich wird klar, warum die meisten Reiseveranstalter die „Perle der Antillen“ von ihren Programmen gestrichen haben.

Anfang November wurde der in Paris lebende deutsche Regisseur Thomas Harlan nach Beendigung der Dreharbeiten zu einem in Haiti gedrehten Spielfilm verhaftet und ins Gefängnis der „Anti-Gang„-Brigade in Port-au-Prince gesperrt. Die Zelle, in der Thomas Harlan ohne Wasser und Nahrung auf dem nackten Fußboden lag, wurde die ganze Nacht hindurch von einer singenden und tanzenden Menschenmenge belagert, die mit Rufen wie „ecrasez blanc“ und „tuez Monsieur Thomas“ seinen Kopf forderte. Den „spontanen“ Volkszorn hatte Syto Cave, ein haitianischer Mitarbeiter des Films, inszeniert, um seinen finanziellen Forderungen Nachdruck zu verleihen: an Stelle der vertraglich vereinbarten Summe verlangte er vom Regisseur, der dafür gar nicht zuständig war, plötzlich das Doppelte; alle übrigen Mitglieder des Teams hatten zu diesem Zeitpunkt bereits das Land verlassen. Als Mithäftlinge getarnte Personen drangen nachts in die Zelle ein und versuchten, Thomas Harlan zu würgen, der sich schlafend stellte, um ihren Nachstellungen zu entgehen. Als er am nächsten Tag, nach Intervention seines Anwalts, als freier Mann das Gefängnis verließ, stand der 60jährige unter einem traumatischen Schock und mußte sich in ärztliche Behandlung begeben. Beim Versuch, mit einem von der Botschaft ausgestellten neuen Paß - der alte war seit seiner Festnahme verschlossen - Haiti auf legalem Weg zu verlassen, wurde der Regisseur am Flughafen zurückgewiesen, auch beim zweiten Versuch wurde er, im Beisein des deutschen und des französischen Botschafters, handgreiflich an der Ausreise gehindert. Die folgenden Wochen verbrachte Thomas Harlan in der bundesdeutschen Residenz, faktisch unter Hausarrest, während sein Ex-Freund Syto Cave immer absurdere Strafanträge gegen ihn stellte unter anderem wegen Diebstahls eines Kühlschranks, widerrechtlicher Aneignung geistigen Eigentums und Verächtlichmachung der nationalen Ehre Haitis - und seine finanziellen Forderungen von 30.000 bis auf 90.000 Dollar hochschraubte. Erst nach einer Protestnote des Auswärtigen Amts und massiver Intervention der französischen Regierung durfte der Regisseur Ende November aus Haiti ausreisen.

Welcher Anstrengungen es bedurfte, um den persönlichen Streit zwischen einem deutschen Filmemacher und seinem haitianischen Co-Autor nicht zum politischen Konflikt eskalieren zu lassen, zeigt ein Vergleich mit der „Affäre Lüders“, die in Haiti in die Geschichtsbücher Eingang gefunden hat und noch heute jedem Schulkind geläufig ist. Was im Herbst 1897 mit einer Ohrfeige begann, die ein deutscher Geschäftsmann namens Lüders einem haitianischen Polizisten verabreichte, endete damals mit der Entsendung einer deutschen Kriegsflotte nach Port-au-Prince, deren Kommandant von der Regierung Haitis eine Entschädigung von 50.000 Dollar sowie eine Entschuldigung erpreßte. Daß diesmal weniger Porzellan zerschlagen wurde, ist diplomatischer Diskretion ebenso zu verdanken wie dem guten Willen des mit der Klärung des Falles befaßten haitianischen Gerichts.

P.S.: Wer etwas spenden möchte für die von Hunger und Armut am härtesten betroffene Bevölkerung im Nordwesten Haitis, die ohne Wasser und Strom, von der Außenwelt abgeschnitten, vegetiert, der sei an dieser Stelle auf ein nichtstaatliches Hilfsprogramm verwiesen, dessen Arbeit, ohne bürokratischen Verwaltungsaufwand, direkt den Menschen zugute kommt. Adresse: Hilfswerk Haiti e.V., Timmermannstraße 11, 2000 Hamburg 60, Tel.: 040 / 516506, Konto 494949 bei der Deutschen Bank Hamburg, BLZ 20070000