Familientreffen

Der Besuch der DDR-Opposition bei Solidarnosc in Warschau  ■ G A S T K O M M E N T A R

Es sei wie bei einem Besuch von Familienangehörigen, die sich lange nicht gesehen hätten, und daher normal, daß man sich zunächst ohne die Anwesenheit von Journalisten unterhalten wolle. So beantwortete Professor Bronislaw Geremek, Fraktionsvorsitzender des Bürgerkomitees Solidarnosc im polnischen Parlament, die erste Frage der anschließenden Pressekonferenz. Mit dieser Bemerkung sind Charakter und Atmosphäre der Gespräche, die eine Delegation der DDR-Opposition letzte Woche auf Einladung von Solidarnosc in Warschau und Gdansk führte, treffend benannt. Obwohl viele einzelne sich aus früheren Kontakten kannten, war dieser Besuch in den Beziehungen zwischen Polen und der DDR ein Novum. Nach dem Zerfall der autoritär -stalinistischen Strukturen in unseren Ländern ist auch zwischen uns ein Vakuum entstanden, das von den demokratischen Kräften beider Seiten gefüllt werden muß. Eine Neugestaltung der Beziehungen auf allen Ebenen steht an. Trotz der bestehenden Ungleichheiten - dort Regierungsverantwortung der Solidarnosc mit ihrer zehnjährigen Geschichte, hier eine sich gerade erst formierende Opposition - sind wir in diesem Prozeß natürliche Verbündete.

In allen Gesprächen - insbesondere während einer freundschaftlichen, aber auch sehr nachdenklichen Begegnung mit Premierminister Tadeusz Mazowiecki - wurde deutlich, daß das in Sachen deutsch-polnische Verständigung der letzten Jahrzehnte Erreichte in der neuen Situation auf dem Prüfstand steht. Mit schweren Belastungsproben ist zu rechnen. Es wird vor allem an uns liegen, in Polen die Unsicherheit über den weiteren Weg der Deutschen in Zentraleuropa nicht noch zu vergrößern. Besonders in den letzten Wochen aufgekommenen akuten Spannungen wegen des rigiden Grenzregimes an Oder und Neiße sowie der sogenannten „Maßnahmen zur Kontrolle des DDR-Binnenmarkts“ lassen in Warschau die Alarmglocken läuten. Beunruhigung rufen nicht so sehr die Maßnahmen einer DDR-Übergangsregierung hervor als vielmehr die wohlwollende Zustimmung breiter Bevölkerungskreise. Eine Regierung, die gewollt oder ungewollt Ausländerfeindlichkeit schürt, gleichzeitig aber die Opposition in eine rechtsradikale Ecke zu drängen versucht, handelt immer noch nach einer alten stalinistischen Maxime: über nationale Ressentiments ein innenpolitisches Legitimationsdefizit zu neutralisieren.

Eine DDR-Opposition, die sich anschickt, die bisherige Regierung abzulösen, muß sich hüten, eine kurzsichtige und populistische Ostpolitik zu betreiben. Gerade daran wird sich erweisen, wie ernst sie den Zusammenhang zwischen der anstehenden Demokratisierung des Staates und der Entwicklung einer demokratischen Kultur nimmt. Kein geringerer als Adam Michnik hat die in Warschau versammelte Opposition beschworen, bei den Mai-Wahlen gemeinsam anzutreten. Bleibt zu hoffen, daß sich in der DDR, ähnlich dem polnischen Modell, Gemeinsamkeit im Handeln und Pluralität im Denken nicht gegenseitig ausschließen.

Ludwig Mehlhorn, Gründungsmitglied der Oppositionsgruppe Demokratie Jetz