Missa Solemnis - schlicht falsch

■ Verständnisschwierigkeiten bei Schneiders Beethoven-Messe

Schon Adorno mühte sich, „die Rätselfigur der Missa Solemnis“ Beethovens zu entziffern. Er geißelte, daß sie dem Subjekt „gebieterisch den Eingang in die Musik verwehrt“. Der DDR-Musikwissenschaftler Harry Goldschmidt insistierte dagegen, daß das Werk „als die Bestreitung des falschen Zeitgeistes zu verstehen“ sei. Und die westdeutsche Koryphäe Carl Dahlhaus reklamierte am liebsten die „biografische Erklärung“ für die Deutung der Missa.

Ein nicht ungewichtiger Grund, für die Rezeptions- und Verständnisschwierigkeiten der Komposition liegt zweifellos in der Aufführungstradition. Es mag nach wie vor viele offene Fragen zu diesem Spätwerk geben, zumindest eine davon hat die historische Musikwissenschaft bis dato einigermaßen zuverlässig beantwortet: daß nämlich die

romantische Aufführungstra dition in bezug auf die sogenannte „Klassik“ nicht korrekt ist.

In diesem Sinne war das erste Philharmonische „Doppelkonzert“ zwar nett, aber weitgehend schlicht falsch. Der Dirigent Peter Schneider berücksichtigte weder das richtige mouvement, also die Bewegung hinsichtlich des Charakters der Stücke, noch die deutliche Betonung „guter“ und „schlechter“ Zählzeiten; das Orchester schien noch nie etwas von Artikulation gehört zu haben; der erste Violonist spielte seine Solostimme im „Sanctus“ so, als wären keine klaren Bögen über den Tönen notiert; die vier Solisten präsentierten ein scheußliches Dauervibrato, das auch zu Beethovens Zeiten noch verpönt war, sich höchstens als Verzierung („Bebung“) auf vornehmlich langen Notenwerten fand. Die ekla

tanten Tempo-Schwankungen innerhalb der einzelnen Abschnitte waren geradezu grotes, nachdem es um ein Werk des Komponisten ging, der so nachhaltig für die Entwicklung ds Metronoms eintrat.

Die gesicherte Erkenntnis des Weiterlebens der rhetorischen Tradition in Beethovens Musik lassen solche Aufführungen längst nicht mehr wie Kavaliersdelikte erscheinen, Aufführungen wie die der Missa in der Glocke sind peinlich. Aber keiner der Abonnenten schreit „Geld zurück“. Dem ästhetischen Verständnis der Missa würde eine adäquate Interpretation sicherlich sehr zu Hilfe kommen; darauf werden wir warten müssen, bis sich jemand aus der kleinen Gruppe englischer und niederländischer Aufführungspraktiker auf den Weg macht.

H. Schmidt