HEISSES KINO KALTGESTELLT

■ Das Ostberliner Filmtheater „Babylon“ - Vom Volkskino der zwanziger Jahre zum Freiraum für Vergessenes und Verbotenes

Eine Hausbesetzung seltener Art fand am vergangenen Wochenende in Ost-Berlin statt. Die Besetzer waren die Mieter selbst. Die Leichenoper - Geschichte einer Karriere, ein Projekt der Schauspielschule Berlin und der Hochschule für Musik, aufgeführt an jenem Wochenende im bereits aus „technischen Gründen“ geschlossenen Babylon, wurde zum Abgesang auf ein Stück Berliner Kinokultur. Ein normaler Programmtag im Januar wurde zur Protestaktion gegen die Entscheidung der Bezirksfilmdirektion Berlin, das Kino wegen defekter Heizungsanlagen zu schließen.

Am Dienstag demonstrierten Mitarbeiter und Publikum für den Erhalt des Kinos und damit wohl auch für einen Ort, der weiterhin Freiraum für den nichtkommerziellen Umgang mit Film bietet. Auf dem Flugblatt zur Protestaktion wird die Wiedereröffnung in vier Wochen gefordert. Unter dem Motto „Nicht kaltgestellt, sondern kaltes Kino“ wird das Publikum zur Solidarität und zum Besuch der Veranstaltungen im „aus technischen Gründen“ geschlossenen Babylon aufgerufen. Das Deutsche Rote Kreuz des Stadtbezirks will Decken zur Verfügung stellen, die Kunsthochschule Berlin den Protest mit Plakten unterstützen. Bis eine Lösung zugunsten des Kinos erarbeitet wird, will man nicht passiv überwintern.

Nur irgendein Kino? Die Entscheidung, das Babylon zu schließen, fiel paradoxerweise genau in den Tagen, als bekannt wurde, daß Filmbeiträge der Berlinale im Februar auch im Babylon zu sehen sein werden und DDR-Kulturminister Keller mit Filmschaffenden der DDR basisdemokratisch über den Erhalt der nationalen Filmkultur debattierte. Aber auch dies ist der Ausdruck bewegter Zeiten, in denen ungewöhnliche Protestformen gegen die immer noch gewöhnliche Trägheit von Entscheidungsprozessen gesetzt werden. Was soll's, ein Kino wird geschlossen, sagen die einen, es ist eben nicht irgendein Kino, sagen die anderen. Denn das Babylon ist das einzige Wiederaufführungs-, Studiofilm- und Archivprogrammkino in diesem Teil der Stadt. Nicht nur für Berliner Cineasten eine Oase im kommerziellen Zelluloid dschungel.

Als das Berliner Großstadtleben noch ungeteilt und unzerstört pulsierte, in den vielzitierten „goldenen Zwanzigern“, wurde das Babylon 1928 am damaligen Bülowplatz nach Entwürfen von Hans Poelzig (1869-1936) erbaut. Heute steht es unter Denkmalschutz und ist eines der wenigen erhaltenen Gebäude, das Architektur-, Kultur- und Filmgeschichte sinnfällig und gegenständlich vereint. Hans Poelzig, Vertreter der modernen Architekturrichtung „Das neue Bauen“ zu Beginn unseres Jahrhunderts, war mit den Entwürfen für das Babylon der neuen Sachlichkeit verpflichtet, entgegen den sonst üblichen eklektizistischen Fassadendrapierungen im Berliner Häusermeer. Innen war das Babylon noch für große Stummfilm- und Varieteabende ausgestattet worden - mit Kinoorgel, Orchestergraben, Logen und mehr als 1.200 Plätzen. Schon ein Jahr später kam mit The Jazz Singer der erste Tonfilm nach Deutschland, und die Geschichte der Umbauten, Veränderungen und Verkleidungen in einem der größten von 396 Berliner Kinos begann.

Poelzig baute nicht nur für die reale Wirklichkeit. So entstand die Filmwirklichkeit von Paul Wegeners und Carl Boeses Film Der Golem, wie er in die Welt kam (1920) nach seinen Entwürfen. Poelzigs Golem-Stadt, gebaut auf dem Ufa-Gelände in Tempelhof, wurde zum Synonym für expressionistische plastische Filmarchitektur im Unterschied zu den Dekors anderer deutscher Stummfilme wie Das Cabinett des Dr. Caligari (1920) oder Von morgens bis Mitternacht (1920). Das Kino war längst gesellschaftsfähig geworden, das verrufenen Kintopp abgelöst von den großen Filmpalästen der Ufa, und die Filmindustrie war der drittgrößte Industriezweig Deutschlands.

Vom Verband selbständiger Filmtheaterbesitzer Berlin -Brandenburgs als „Erstaufführungskino“ geführt, wurde das Babylon auch als „eindeutig orientiertes Lichtspielhaus für das Volk“ bezeichnet. Ob damit die Arbeiter im umliegenden, dichtbesiedelten Scheunenviertel Berlins angesprochen werden sollten, ist offen. Der Bülowplatz war keine schlechte Adresse für ein „Volkskino“. Gerade erst hatte sich dort die Volksbühnenbewegung mit der „Volksbühne“ einen Aufführungsort für politisches Theater für die arbeitenden Massen geschaffen. Neben dem großen Anteil an Unterhaltung in der Programmgestaltung in den ersten Jahren waren Produktionen der Prometheus-Film GmbH Bestandteil des Babylon-Spielplans.

In den Jahren, in denen die Anschrift des Babylons „Horst -Wessel-Platz“ hieß, wurde das Kino wie andere öffentliche Einrichtungen zu Propagandazwecken benutzt. Aber auch da schon war es nicht nur Distributionsstätte der Filmindustrie. In den Garderobenräumen wurden Flugblätter der KPD hergestellt. 1948 wurde das Babylon als Uraufführungskino wiedereröffnet. Die dem kollektiven Optimismus verpflichtete Kulturpolitik hinterließ Spuren, Brüche und Narben in der Filmgeschichte der DDR. Der Standort des Babylon wurde glücklicherweise von den neuen Alleebauten für das neue Leben nicht berührt.

Die Entwicklung des Babylons vom Kino des kleinen Mannes über das erste Haus am Platze bis zum Filmkunsttheater ist Ausdruck des sich verändernden Stellenwerts des Kinos im gesellschaftlichen Leben. Filmrezeption findet längst nicht mehr nur im Saale statt. Was also zieht die Leute in das alte Kino, in dem man immer friert, in dem die Patina des Gebrauchs und Mißbrauchs den einstigen Glanz der „goldenen Jahre“ längst übermattet hat und in das man oft nicht mehr reinkommt, wegen ausverkaufter Karten? Es hat etwas zu tun mit den Leuten, die dort arbeiten, mit dem Programmangebot, das sie monatlich zusammenstellen, und der besonderen Atmosphäre, die ein filmbesessenes Publikum sich selbst schafft.

Das Spektrum der Berufe der Mitarbeiter reicht vom Sänger über Ökonom bis zum Kulturwissenschaftler. Der gemeinsame Nenner, auf dem sie sich treffen, ist der ihrer „Aussteigerbiographien“ im positiven Sinne des Wortes und die Leidenschaft für Film im allgemeinen und für ihr Kino im besonderen. Ein unkonventionelles Verhältnis zu noch bestehenden Verleihstrukturen, -gesetzen und Ausleihpraktiken macht Unmögliches für das Programmangebot möglich. Vergessene oder für lange Zeit verbotene Filme wurden oft erstmals wieder im Babylon aufgeführt, wie Jadup und Boel oder Sonnensucher. Filme nationaler wie internationaler Produktionen, die der staatliche Verleih „Progress“ schon aus den Kinos genommen hat, weil auch hier der Druck der Kinokassen maßgeblich den Einsatzplan bestimmt, kommen im Babylon zum Wiedereinsatz. Das Staatliche Filmarchiv der DDR hat hier seine einzige Aufführungsstätte. Daß der Defa-Dokumentarfilm wieder Teil gesellschaftlicher Diskurse wurde, ist neben anderem Resultat einer nun schon traditionellen Reihe: „Angebote Neue Defa-Dokumentarfilme im Kino am Rosa-Luxemburg-Platz“. Die Zusammenarbeit mit internationalen Kulturstiftungen und

-zentren machte die Retrospektiven zu bekannten Regisseuren und zur internationalen Kinematographie möglich, wie im vergangenen Jahr die „Schweizer Filmtage“. Die Bedeutung solcher Initiativen für ein Filmpublikum in einem eben doch geschlossenen Land muß nicht kommentiert werden. Und schließlich passierte im Babylon immer mehr als Filmvorführungen. Rockkonzerte, Theateraufführungen, Filmnächte und Talkrunden gehören ebenfalls zum Programm; und zum ambienten Service seit zwei Jahren ein Requisitencafe.

Die Gefahr einer endgültigen oder befristeten Schließung wegen einer seit zehn Jahren defekten Heizungsanlage wird vielleicht aufzuhalten sein - was aber kann ein Kino ausrichten gegen den größeren Defekt in gesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen? Das mediale Netzwerk Erde verschlingt Zeit, Entfernungen und kulturelle Besonderheiten. Weitergreifende Konzeptionen der Babylon -Initiativgruppe sehen den Ausbau des Hauses und die Erweiterung des Programms wie Videoproduktionen vor. Eine Wiederbelebung, „eine Entkleidung des Babylons“, schwärmt ein Mitarbeiter. Die alten Möglichkeiten der Räume wieder herstellen und nutzen. Kein Museum der Architektur-, Kultur und Filmgeschichte, sondern alles live.

Laura Len, Ost-Berlin