Die Ha-Null-Welt ist noch in Ordnung

■ taz-Serie zum Kennenlernen von Ost-Berlin / Vierter Teil: Privater Modellbahnladen in der Invalidenstraße / Trotz Öffnung der Mauer gibt es bisher nicht die erwarteten „Hamsterkäufe“ / Zwei Millionen Mark Umsatz in kleinem Geschäft / DDR-Modell-Loks rollen zuerst im Westen

Das blasse Gesicht des Jungen leuchtet wie die Neonröhre in der Vitrine vor ihm. Seinem jüngeren Freund zeigt er im Ausstellungskasten stolz zwei Spielzeug-Loks, die er zu Hause selber hat. Dann sucht er zwischen den mehreren Dutzend Modellen überlegt zwei Dampfrosse aus. „Die will ich haben“, sagt er eher bewundernd als fordernd - im Kreiskulturhaus „Prater“ in der Kastanien-Allee, wo derzeit eine Modellbahnausstellung läuft, haben Kinder noch Träume. Die haben sie auch nötig, denn in den Regalen der Ostberliner Spielzeugläden sieht die Ha-Null-Welt anders aus.

Gleich um die Ecke, in der Dimitroff-Straße, ist einer von vielen Spielzeugläden. Hier gibt es die zwei Dampfloks im Ha -Null-Maßstab (1:87), die der Kleine in der Ausstellung so unbedingt haben wollte, nicht. Die Schaufenster sind zwar voll mit Loks, Waggons, Modellhäusern und Zubehör - doch wer genau hinguckt, bemerkt die geringe Auswahl. Die Artikel, die es gibt, gehen im Laden allerdings ununterbrochen über den Tresen.

Die gestreßte Verkäuferin erzählt in dem staatlichen Laden dem taz-Reporter zwar: „Natürlich haben wir mehr West-Kunden seit Öffnung der Mauer“, ansonsten sagt sie aber nichts. Ihr Berufskollege Winfried Koschel aus der Invalidenstraße ist gesprächiger. Was auch kein Wunder ist: Er ist ein nicht -staatlicher Händler, das „HO„-Emblem der staatlichen „Handels-Organisation“ über dem Schaufenster fehlt. Er bekommt kein festes staatliches Gehalt, sondern zehn Prozent Provision.

Die neuen Käufer aus dem Westen erkennt der 51jährige sofort: „Die kaufen wählerischer, lassen sich alles länger zeigen.“ Aber der D-Mark-Sturm auf seinen Tresen blieb bisher aus. „Die Grenzöffnung macht sich nicht so bemerkbar, wie wir befürchtet haben. Es gibt keine Hamsterkäufe, es kommen eher Sammler.“ In der Schlange im Spielwarengeschäft sieht es manch Ostberliner anders. „Die kaufen den ganzen Laden leer“, motzt ein 40jähriger von hinten, als vorne ein tschechisches Ehepaar sieben Waggons kauft. „Die sollen nicht so habgierig sein“, tut Koschel das Gezeter des Neiders ab, „umgekehrt reisen wir auch in die CSSR, kaufen für unseren eigenen Bedarf.“ Und wenn Koschel - selten genug - „eingeschränkte Artikel“ bekommt, hält er sie für die eigenen Bürger zurück.

Die sind aber trotzdem sauer. Wenn mal einer der beiden Hersteller, „Pico“ in Sonnenberg oder die „Berliner TT -Bahn“, ein neues realsozialistisches Eisenbahn-Modell anrollen läßt, dann zuallererst auf westdeutschen Schienen. Im DDR-Binnenmarkt gibt es das neue Spielzeug vorerst nur auf Papier - und zwar als Abbildung im 'Neuen Deutschland‘. Bis das Original die Regale füllt, dauert es zwei Jahre.

Aber nicht nur die geprellten Kunden sind unzufrieden. Auch die Händler. „Damit ich vom Umsatz leben kann, muß ich mitunter zehn bis zwölf Stunden arbeiten“, stöhnt Koschel. Seinen drei Mitarbeitern darf er nicht den gleichen Tariflohn zahlen wie im staatlichen „HO„-Laden.

Zwei Millionen Mark im Jahr setzt er in seinem kleinen Laden in Berlin-Mitte um. Das macht 100.000 Mark Gewinn, von dem er seine Frau entlohnen, den Laden und den Lieferwagen bezahlten muß. „Dann hält noch der Fiskus seine gierige Pranke hin“, erzählt der Einzelhändler. Stöhnen und klagen gehört eben auch hinter der Mauer zum Geschäft.

Koschels Laden ist eins von 3.200 privaten Einzelhandelsgeschäften aller Branchen, die es in Ost-Berlin gibt. Seit dem 9. November fangen auch die Privathändler an, zu rebellieren. Die SED hat ihnen jahrelang als Vertretung einfach die „Handels- und Gewerbekammer“ vor die Nase gesetzt. Die dort arbeitenden SED-Funktionäre durften nicht von der Basis gewählt werden. Nach Maueröffnung haben Einzelhändler gleich bei den Handelskammern im Westen reingeguckt. Noch in diesem Monat wollen sie einen „Industrieverband“ gründen.

Vielleicht entdeckt der kleine Junge aus dem „Prater“ dann bald die beiden heißersehnten Loks aus der Ausstellung in Ostberliner Schaufenstern wieder. So billig wie heute wird Spielzeug dann allerdings nie wieder zu haben sein - denn noch wird es von der Regierung kräftig subventioniert.

Dirk Wildt