: PLÄDOYER FÜR DAS MUFFIGE WORT
■ Karl Schlögel sprach über Kultur und Krach
Zwischen floralem Tiefschnittdekor und reliefiertem Blattdekor zartfarbener Jugendstilvasen, vor Jugendstilmöbeln unter herbstlicher Meereslandschaft, neben kubistischen Holzplastiken, Art-deco-Objekten und expressionistischer Malerei wurden von Karl Schlögel in der schallgedämpften Atmospähre des Bröhan-Museums leise Überlegungen zu Kultur und Krach angestellt.
Er wolle hier nicht als Sachkundiger sprechen, leitete Schlögel seinen Vortrag ein, keine Kulturgeschichte des Lärms skizzieren (dazu verwies er auf Mary Schäfers Buch: Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens), sondern als Betroffener, als ein vom „Kreuzberger Bürgerkrieg“ Hörgeschädigter, ein in seinem Lebensrhythmus durch die zunehmende Krachentropie zutiefst Beeinträchtigter. Das Sprechen über Krach habe daher von vornherein etwas Verzweifeltes: Gegen Krach ließe sich mit Worten nicht ankommen, Krach ließe sich nicht domestizieren durch das wohltemperierte Argument. In einer Zeit, „in der es drunter und drüber geht“, sollten daher „nicht terminologische Feinheiten zur Achse der Überlegung werden“.
Schlögel stellte im folgenden mit einem leicht nostalgischen, in den Osten gewendeten Blick die Krachproduktion der offenen und geschlossenen Gesellschaft einander gegenüber. Vorsintflutlich nannte er die Krachproduktion der sozialistischen Gesellschaft im Vergleich zu der der westlichen Industrienationen, in denen die Lärmproduktion zum Prinzip geworden sei; das Schlaglöchergeklopfe sei bei weitem weniger belastend als das kalte Zischen der Autos westlichen Typs, noch ein Trabi reiche in seinem Lärmausstoß eher an die Klangfarbe einer Dampfmaschine heran. Das lauteste, was er aus der Sowjetunion kenne, sei das blecherne Quäken eines Kassettenrecorders auf einem Hinterhof, meist mit einer Stimme Wyssotzkis darin. Selbst die über Lautsprecher verkündeten politischen Dekrete seien aufgrund ihrer Monophonie nichts im Vergleich mit den unser vegetatives Nervensystem zerrüttenden Rockbässen, die sich klammheimlich in unsere Wohnung schlichen. Die Tatsache, daß im Osten zwei bis drei Generationen in einer Wohnung zusammenleben müßten, verhindere die im Westen üblich gewordene Selbstverwirklichung durch Krach. Ebenso gäbe es dank Mangel nicht die lästige Werbeberieselung wie in unseren Kaufhäusern; bei Einkaufsprozessen seien im Osten nur das Scharren der Füße in der Schlange und das muffige Wort zu hören. Das Monopol der Lautheit sei insgesamt unvergleichlich viel erträglicher als unsere ununterbrochen palavernde Gesellschaft.
Schlögel, eingedenk der Tatsache, daß sich das von ihm skizzierte Lautgefälle gerade im Begriff ist zu verschieben, gab dann einige prophetische Hinweise zum sich wandelnden Lautbild Berlins. Die Insellautstärke, die sich bisher, wollte man absehen von spezifischen Kreuzberger Überschallformen, aus dem Pfeifen des Windes in den langen Chausseen und dem Lautschatten längs der Mauer ergab, werde sich nun einpegeln auf den Durchschnittslärm einer westdeutschen Großstadt. Lärmnischen werden endgültig verschwinden, mancher Einwohner Berlins unerhörterweise mit dem entstehenden Lärmnetz des Ost-West-Verkehrs konfrontiert. Die Lahmlegung mancher Straßenzüge, das „Verbarrikadieren“ der Straßen durch Pollern könne andererseits keine zukunftsweisende Form von Urbanität sein.
Schlögels Hauptproblem, so wurde immer deutlicher, waren die „einstürzenden Neubauten“, ohne die die Welt, wie er sagte, „unwahr wäre“. Es gäbe natürlich keine Rückkehr zur Kammermusik. Er müsse sogar einräumen, daß auch im Osten gewisse Demokratisierungsprozesse nicht ohne einen gehörigen Lärmzuwachs, wie beispielsweise den der Rockmusik in den sechziger Jahren, hätten vor sich gehen können. Aber er wehre sich gegen die notorisch überdrehte Phonzahl zu Zwecken der Selbstbehauptung, er wolle sich die Freiheit der Wahl der Rockmusikbeschallung bewahren und nicht zum Konzert gezwungen werden, wenn die Rockmusik es will. Schlögels Vortrag wurde zum Plädoyer für eine rasche Inangriffnahme der Lärmentsorgung unserer Umwelt (hätte als solches vielleicht besser vor den Bundestag gepaßt) aus Gründen der Rettung der gehörbegabten Art. Er wehrte sich gegen den öffentlichen Konsens der Lärmakzeptanz und gegen die Tatsache, daß Fragen des DIN-Ausstosses abhängig sind von der Lobby der Zementindustrie. Er wurde Sprachrohr für die vielen, die ihre Schlafstörungen und Konzentrationsschwächen nicht in Rechnung stellen können. Er malte Schreckensvisionen von an Hörschädigung zugrundegehender Menschennatur und vom alleinigen Überleben der tauben Art: der uns ihrerseits lärmbelästigenden Hinterhofvogelschar.
Michaela Ott
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen