Lafontaine - der Kandidat hat 99 Punkte

Vor der Saarland-Wahl hat die SPD-Spitze ihr Drehbuch geändert: Oskar Lafontaine wird jetzt bereits als Kohl-Herausforderer gepuscht / Der Umworbene behält sich politische Bedingungen für das Bundestagswahlprogramm vor / Kandidatur soll Chancen an der Saar erhöhen  ■  Aus Bonn Charlotte Wiedemann

Der Knobelbecher mit den Konterfeis von Oskar Lafontaine und Hans-Jochen Vogel, ein Präsent der SPD-Pressestelle zur Jahreswende, kann nun schon ins Regal geräumt werden. Die Würfel für den Kanzlerkandidaten sind gefallen, schneller zuletzt, als es in diesem langen, zähen Spiel eigentlich vorgesehen war.

Noch sagt es der Parteivorsitzende nicht direkt, aber indirekt läßt es Hans-Jochen Vogel seit drei Tagen an Deutlichkeit nicht fehlen. So auch am Mittwoch abend vor Bonner Journalisten: „Die Zustimmung zu Oskar Lafontaine als stellvertretendem Parteivorsitzenden hat sich in der Partei außerordentlich verbreitert. Es gibt jetzt eine allgemeine, allumfassende Zustimmung. Ich bin darüber sehr erfreut.“ Und zuvor im Rundfunk nannte er seinen Vize einen Mann, „der als Kanzlerkandidat ganz hervorragende Arbeit leisten würde“.

Noch wird im Konjunktiv gesprochen, das gehört auch in dieser Schlußrunde zum Spiel. Schließlich muß Oskar Lafontaine erst noch die Wahl im Saarland gewinnen. Doch zwei Wochen vor diesem Wahltermin hat die SPD-Führung nun das Drehbuch umgeschrieben: Bisher galt ein glänzender Wahlsieg „Oskars“ als entscheidende Bedingung für die Nominierung zum Kanzlerkandidaten; nun wird der Saarländer bereits zuvor als Kandidat in spe gepuscht.

Und das nicht nur durch Vogel. Die Vize-Vorsitzende Herta Däubler-Gmelin, eine Intimfeindin Lafontaines, durchbrach das bisher verordnete Schweigen am deutlichsten, indem sie den Saarländer öffentlich als Kohl-Herausforderer vorschlug

-wenn auch mit dem leicht abschätzigen Unterton, die SPD brauche jemanden, der den „Leuten aufs Maul“ schaue. Und Johannes Rau, der lange den Eindruck erweckte, als sei auch er für den wichtigsten SPD-Posten des Jahres 1990 nicht ganz aus dem Rennen, sandte gestern eindeutige Signale aus: Er wolle „helfen, daß Lafontaine mit einem guten Ergebnis aus der Saar-Wahl herauskommt“.

Saarland: Unser Mann

in Bonn

Für die Änderung des Drehbuchs bieten sich vor allem zwei Gründe an. Der erste ist die Macht des Faktischen: Der Berliner SPD-Parteitag im Dezember hat die gewachsene Rollenverteilung zwischen den beiden möglichen Kandidaten irreversibel festgeschrieben. Vogel - der Kärrner im Hintergrund, der die Partei zusammenhält, aber den sich kaum jemand mehr als wählerwirksames Zugpferd 1990 vorstellen kann. Dagegen Lafontaine - der redegewandte, machtbewußte Taktiker, der neue Wählerschichten erschließen könnte und dem man mittlerweile auch zutraut, die alten nicht zu verprellen. Der zweite Grund für die Drehbuch-Änderung: Es gilt nicht mehr als abträglich für Lafontaine, wenn die Saar -Wähler wissen, daß sie am 28. Januar nicht nur einen Ministerpräsidenten, sondern einen möglichen künftigen Kanzler aufs Schild heben.

Es könnte im Gegenteil sogar beim knappen Rennen um die absolute Mehrheit von Vorteil sein: Das politisch-historisch im Abseits liegende kleine Saarland würde sich durch „seinen“ Mann in Bonn besonderer Gunst erfreuen können. Lafontaine setzt in dieser Situation aufs Ganze: Gegen Kohl antreten will er nur, wenn er in Saarbrücken seine absolute Sitzmehrheit verteidigt. Zugleich greift er jedoch schon elf Monate voraus: Wenn er bei der Bundestagswahl gegen Helmut Kohl unterliegen sollte, würde er nicht als Oppositionsführer nach Bonn gehen. Auch dies wird den Saar -Wählern gefallen. In Bonn scheint man die Latte für den Kandidaten hingegen schon nicht mehr ganz so hoch zu hängen: Ein Verlust der absoluten Mehrheit, der auch bei Wahrung des bisherigen Stimmenanteils von rund 49 Prozent eintreten könnte, wird nicht unbedingt als Imageverlust betrachtet.

Lafontaine: Kanzler nur mit

meiner Sozialpolitik

Der nun allseits Umworbene hat allerdings noch sein eigenes Drehbuch: Nach einem Wahlsieg würde Lafontaine zunächst ein „Päckchen“ schnüren, so heißt es in seiner Umgebung, das der Partei als Bedingung für den Antritt des Kandidaten präsentiert wird. Dazu gehört, daß sich die „Fortschritt 90“ -Kommission bei den bisher noch offenen sozialpolitischen Streitfragen für das Regierungsprogramm Lafontaines Willen fügt. Zum Beispiel: kein eigenständiges Pflegegesetz, das mit bloßen Startkosten von über sechs Milliarden Mark als zu teuer angesehen wird. Und wohl auch keine Grundsicherung, für die der Sozialpolitiker im F-90-Schattenkabinett, Rudolf Dreßler, vorerst noch streitet.

Während es also hinter den Kulissen noch ein kurzes Hadern geben würde, sieht das Drehbuch vor den Kulissen so aus: „Irgendjemand“, allerdings nicht aus der engeren Parteispitze, könnte Lafontaine am Abend einer siegreichen Saar-Wahl als Kanzlerkandidat per Interview ausrufen; Parteichef Vogel wird sich bald ähnlich äußern, der Parteivorstand entscheidet im März, ein außerordentlicher Parteitag gibt erst am 27./28. September den letzten offiziellen Segen.

Und was hat das beinahe dreijährige Knobeln dann gebracht? Hans-Jochen Vogel gibt zur Antwort, daß dadurch der Abnützungszeitraum für den Kandidaten doch „auf neun bis elf Monate verkürzt“ worden sei. Und, so läßt sich hinzufügen, auch in ihren langweiligsten Zeiten hatte die SPD ein Dauerthema, das manche interessant fanden.