Kaum Erfolgschancen

Gorbatschows Versuch, Zeit zu gewinnen  ■ K O M M EN T A R

Indem er Regelungen für den Austritt der Einzelrepubliken aus der Sowjetunion ankündigte, hat sich Gorbatschow eine Atempause verschafft. Die Dynamik der Prozesse jedoch kann er nicht mehr kontrollieren. Das gilt auch für die litauische Unabhängigkeitsbewegung; sie ist nicht mehr aufzuhalten. Gewaltmaßnahmen, wie der Einsatz von Panzern, erscheinen heute vollkommen ausgeschlossen. Bricht jedoch Litauen aus der Union aus, sind die anderen baltischen Staaten nicht mehr zu halten - und nach ihnen die meisten anderen Sowjetrepubliken auch nicht.

Perestroika und Demokratisierung haben es möglich gemacht, zuvor verängstigte und vorsichtige Menschen in Bewegung zu setzen. Die autonomen Organisationen haben ihre Wünsche vorformuliert. Als Massenbewegungen wurden sie grundsätzlich und damit radikal. Damit ist der Punkt überschritten, bis zu dem die Prozesse steuerbar waren. Selbst wenn sie wollten, könnten die Führer der Sajudis keine Kompromisse mehr eingehen. Ihr öffentliches Mißtrauen gegenüber Gorbatschows aufschiebenden Äußerungen hält die Mobilisierung aufrecht. Wäöre sie auf die Beschwichtigungen eingegangen, hätten sie sich von ihren Anhängern isoliert. KP-Chef Brasauskas, der bis Mitte letzten Jahres mit seinem Unabhängigkeitskurs nur so weit gehen wollte, wie es möglich war, ohne Gorbatschow zu gefährden, hat durch die Abtrennung seiner Partei und durch sein beharrliches Festhalten an diesem Beschluß sich Sympathien in der litauischen Bevölkerung verschafft. Aber hätte er anders gehandelt, wäre er politisch am Ende. Unter den Bedingungen freier Wahlen brauchen auch kommunistische Parteiführer Unterstützung bei den Wählern.

Gorbatschow muß auf andere Zwänge reagieren. Er hat seine politische Existenz, wie er glaubhaft versichert, mit dem Schicksal der Perestroika verbunden. Zwar hat er das konservative Establishment der KPdSU, daß ihn für eine historische Katastrophe hält, weitgehend ausmanövriert. Aber er hat es nicht beseitigt. Dieses Establishment stützt sich auf einen erstarkenden russischen Nationalismus, der auf seine Weise die antirussischen Gefühle der anderen Nationen aufnimmt. Die Gefahr für Gorbatschow, der in den Augen seiner Gegner das Erbe der Zaren verschleudert und die Weltmachtposition der Sowjetunion zerstört, wird umso größer, je mehr für ihn ausserhalb Rußlands die Unterstützung schwindet. So ist auch seine Vision einer engen Föderation gleichberechtigter Staaten eine Strategie zum Erhalt der Macht. Aber diese Strategie hat, wie sich in Litauen zeigt, kaum Erfolgschancen.

Erhard Stölting