Hokuspokus

■ Die Identitätskrise linker Intelligenz in der Bundesrepublik

Sie erreichten mich noch rechtzeitig zu den stillen und lesefreudigen Tagen zwischen den Jahren: die Dezemberhefte von Leviathan und Prokla - zwei dem kritischen Denken des westlichen Marxismus verbundene Periodika, die einmal als Flaggschiffe der undogmatischen westdeutschen Linken gelten konnten. Der jahresendlichen Leserfreude folgte eine schnelle Enttäuschung: kein Aufsatz, nicht einmal ein Editorial über die weltbewegenden „Ereignisse“ in Osteuropa. Statt dessen: Aufsätze über den Umgang mit der französischen Revolution (gleichsam in letzter Minute vor Ablauf des Bicentennaire), über den Kathedersozialismus Schmollers und die kommenden Segnungen der europäischen Gemeinschaft ('Leviathan‘) und ein Strauß von Beiträgen zu dem gewiß brennenden Problem der Arbeitslosigkeit ('Prokla‘).

Die Zeitschriftenmacher mögen geltend machen, daß Redaktionen längere Planungshorizonte als Revolutionen haben - aber schließlich begannen die Umwälzungen in Osteuropa nicht erst nach Redaktionsschluß! Gorbatschows Buch über die zweite russische Revolution, „Perestroika“, erschien bereits 1987 in deutscher Übersetzung. Bisher haben beide Zeitschriften (von denen die eine, 'Prokla‘, sich mit dem Untertitel schmückt: „Zeitschrift für politische Ökonomie und sozialistische Politik“) sich nicht zu den Gorbatschowschen Reformen geäußert.

Warum z.B. sieht Oskar Negt, Verfasser eines 1988 erschienenen Buches über Chinas Modernisierungsprozesse und Autor beider Periodika, sich nicht genötigt, der Linken seine Sicht der jüngsten dramatischen Entwicklungen im „Reich des Drachen“ mitzuteilen? Es sind nicht Zeitprobleme, sondern Identitätskrisen, die die linke Intelligenz verstummen lassen. Symptomatisch für ihre Schwierigkeiten mit den neueren demokratischen Bewegungen im Osten scheint jene wurstige Haltung zu sein, die der Politologe Massing im 'Leviathan'-Heft zu den Menschen- und Bürgerrechten in und nach der Französischen Revolution an den Tag legt. Es ist nicht zu bestreiten, daß die Geschichte der Menschenrechte auch eine Geschichte ihrer Verletzungen ist, aber nach dem relativierenden „auch“ sucht man in Massings Analyse vergebens. Umstandslos transportiert sie die Marxsche Ideologiekritik an diesem „bürgerlichen Schwindel“ und faselt, ungeniert verächtlich, vom „Hokuspokus allgemeiner Menschenrechtserklärungen“. Derartiges heute zu publizieren, zeugt von einem ignoranten oder zynischen Verhalten gegenüber jenen rebellierenden Massen, die die Revolution von 1917 auf die Prinzipien von 1789 zurückführen. Wenn diese Massen derzeit wenig vom Sozialismus wissen wollen, geschieht es ihnen dann nicht recht, wenn sich die kritische Intelligenz - wieder einmal herbe enttäuscht - von ihnen zurückzieht?

Walther Müller-Jentsch