Viel Volk vor der Volkskammer

■ Taxidemo gegen Stasi vor dem DDR-Parlament / Zehntausende protestierten schon gestern abend mit einer Menschenkette in Ost-Berlin sowie Demonstrationen in Rostock, Gera und Erfurt / Warnstreiks gegen SED-Politik in Erfurt / Gegen Stasi und Verfassungsschutz

Ost-Berlin (taz/afp/dpa) - Nachdem schon am Vorabend eine Demonstration und Menschenkette von gut zehntausend Ostberlinern das DDR-Parlament umzingelt hatte, wurde auch die gestrige Parlamentssitzung in der Volkskammer erneut von Warnstreiks und Demonstrationen begleitet. Hunderte Menschen bedrängten am Morgen Regierungschef Modrow auf seinem Weg in den Palast der Republik. Er stellte sich den Bürgern und äußerte auch Verständnis für ihre Sorgen und Ängste vor neuer Bespitzelung.

Zur gleichen Zeit umkreisten Hunderte Taxis hupend und blinkend das Parlamentsgebäude. Ihre Fahrer protestierten gegen Manipulationen des Wahlkampfes und gegen Privilegien ehemaliger Stasi-Mitarbeiter.

Volkskammerpräsident Günther Maleuda verwahrte sich zu Beginn der Sitzung gegen Behinderungen der Abgeordneten. Er verurteilte die „Schändung“ von DDR-Staatsflaggen, die Demonstranten am Vorabend heruntergerissen und unter dem Johlen der Menge zerfetzt hatten.

In aggressiver Volksfeststimmung hatten sich die Demonstranten gegen 17 Uhr vor dem Parlamentsgebäude eingefunden. Mehrere oppositionelle Gruppen hatten zum Protest gegen die Verwandlung des ehemaligen Stasi in einen „Verfassungsschutz“ aufgerufen. Manchmal erinnerte die Stimmung geradezu an einen Fußballklub. „Nieder mit der SED“, sangen die Leute auf die Melodie von Ja, mir san mi'm Radl doa, und immer wieder „Deutschland!“ klatschklatschklatsch - „Deutschland!“ klatschklatschklatsch.

Doch trotz der aggressiven Stimmung kam niemand auf die Idee, das gläserne Gebäude der Volksvertretung zu traktieren. Erst als die Jalousien heruntergelassen wurden, offenbar weil die Fraktionen endlich nach der anstrengenden Parlamentssitzung nach Hause wollte, kam es zu einem wilden Gerangel vor der Tür. „Wir wollen rein!“ wurde skandiert, aber auch: „Keine Gewalt!“ Die Volkspolizisten mußten sich ihrerseits zu einer Menschenkette zusammenschließen, um die drängende Masse zurückzuhalten. „Der Modrow ist doch längst zum Hinterausgang hinaus“, versuchte ein freundlicher Volkspolizist zu beschwichtigen.

In Erfurt traten mehrere tausend Beschäftigte in einen Warnstreik gegen die SED. „SED nein“ und „Was durch Demo sollte weichen, müssen wir durch Streik erreichen“, stand auf ihren Plakaten. Aus Protest gegen die Vormachtstellung der SED-PDS in der Erfurter Stadtverordnetenversammlung erklärte die CDU ihren Austritt und bezeichnete sich als künftige außerparlamentarische Opposition. Mit ihre Maßnahme will sie nach eigenen Angaben rasche kommunale Neuwahlen erzwingen. Am Abend versammelten sich Zehntausende Erfurter auf dem Domplatz der Stadt, um gegen die Restaurationspolitik der SED und ihres Sicherheitsapparates zu protestieren.

In Gera setzten sich rund zehntausend Menschen vor allem für mehr Pressefreiheit ein.

Auch in Rostock wurde am Abend mit Gottesdiensten in sechs kirchlichen Einrichtungen die erste Demonstration in diesem Jahr in der Hafenstadt eingeleitet. Auf einer kurzen Versammlung vor dem Rathaus verlangten Sprecher anschließend gleiche Wahlkampfchancen für alle etablierten Parteien und Organisationen.

usche