: Bürgerkrieg
■ Das militärische Eingreifen der sowjetischen Armee lindert den Konflikt, aber löst ihn nicht
Wenn es gelänge, die verfeindete Bevölkerung mit Waffengewalt voneinander zu trennen und die gefährdeten armenischen Familien und Dörfer zu evakuieren, dann wäre das militärische Eingreifen der sowjetischen Regierung schon ein Erfolg. Lösen kann der massive Einsatz in Aserbaidschan nichts, denn eine Lösung des Nationalitätenkonfliktes gibt es nicht mehr - wenn es je eine gegeben haben sollte. Natürlich könnte man auf die anfängliche Unterschätzung des Nationalitätenproblems durch Gorbatschow oder auf die menschenfeindlichen strategischen Kalküle Stalins verweisen. Aber das nützt jetzt auch nichts mehr. Es geht nur noch darum, möglichst viele Menschenleben zu retten.
Es wäre falsch, in dem ausgebrochenen Bürgerkrieg eigentlich handelt es sich eher um ein Abschlachten - einen Religionskrieg zu sehen; auch wenn die Religion zur Definition nationaler Identität herhält. Er ist vielmehr die letzte Konsequenz des Nationalismus, das Danaergeschenk Europas an den Rest der Welt. Kaum eine Weltgegend ist für diesen Nationalismus weniger geeignet als der Kaukasus, denn es gibt dort kaum einen Fetzen Erde, der nicht mehreren Nationen zugleich heilig wäre. Jahrhundertelang wechselten sich hier die Herren und die Reiche ab, und jahrhundertelang lebten hier verschiedene Völker - in respektvoller Distanz und wechselseitigem Ressentiment - auf engem Raum nebeneinander.
Es war die nationalistische Diskriminierung der Armenier in Berg-Karabach, die zu den Anschlußforderungen an Armenien führte, und es waren diese, an denen sich der Konflikt aufschaukelte. Daß sich beide Seiten mit Waffen versorgten, liegt in der Logik der Entwicklung. Allerdings sind in diesem Falle die Gewichte nicht gleich verteilt.
Auch wenn es einen armenischen Nationalrausch in den letzten beiden Jahren gegeben hat, so trägt die aserbaidschanische Volksfront seit den Pogromen von Sumgait doch das häßlichere Gesicht. Sie hat sich dadurch diskreditiert, daß ihre Vertreter zum jetzigen Pogrom aufhetzen. So werden Erinnerungen an den Völkermord in der Türkei wach, an dem sich nicht nur die osmanische Armee sondern die gesamte moslemische Bevölkerung Anatoliens beteiligt hatte. Das armenische Trauma, das dem jüdischen Trauma gegenüber Deutschland vergleichbar ist, erklärt die heftigen Reaktionen der Armenier und die Sympathien, denen sie bei den Volksfronten im Baltikum begegnen. Nicht nur mit moslemischer und pantürkischer Solidarität im Süden der Sowjetunion, sondern auch europäischer Solidarität muß die sowjetische Regierung rechnen.
Erhard Stölting
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen