Stummel an Leib und Seele

■ Joel-Peter Witkin in Bremen

Als Joel-Peter Witkin, der amerikanische Fotograf, 1986 beim Karl-Hofer-Symposium in Berlin zu Gast war, erzählte er diese Geschichte: „Es passierte an einem Sonntag, als meine Mutter meinen Zwillingsbruder und mich die Treppen des Mietshauses, in dem wir wohnten, hinunter begleitete. Wir gingen zur Kirche. Während wir durch den Flur zum Ausgang des Gebäudes gingen, hörten wir einen unglaublichen Krach, vermischt mit Schreien und Hilferufen. Es war ein furchtbarer Unfall passiert, mit drei Autos, in allen dreien Familien. Irgendwie, durch die Verwirrung, hielt ich nicht mehr die Hand meiner Mutter. Von dort, wo ich an der Bürgersteigkante stand, konnte ich etwas herbeirollen sehen, was aus einem der Autos kam, die sich überschlagen hatten. Es hielt an der Kante an, wo ich stand. Es war der Kopf eines kleinen Mädchens. Ich bückte mich, das Gesicht zu berühren, mit ihm zu sprechen - aber bevor ich es berühren konnte - trug mich jemand weg“.

Joel-Peter Witkin war damals sechs Jahre alt. Die globalen Katastrophen jenes Jahres waren Hiroshima und Nagasaki. Für Witkin war dies die Katastrophe seines Lebens. Sie ist wohl Grund oder Mitgrund seines obsessiven Werks.

Witkins Obsessionen sind Sex, Religion, Verstümmelung und Tod. Eher harmlos erscheint mir Shawn, masturbierend, ein maskierter junger Mann mit Stöckelschuh, der vor der Kamera sitzend sein längliches Glied mit einer Faust umschließt. In seinem Witz unheimlich dagegen der Retter der Ersten, ein maskiertes Rhesusäffchen, das an ein Kreuz gefesselt ist. Schwer zu ertragen ist der Mann ohne Beine, der - wie fast alle Witkin Figuren ebenfalls maskiert - nackt auf einem kleinen skateboard sitzt/steht, sein Penis wie ein Schlauch aus dem unvollständigen Unterleib wachsend, mit der Vorhaut auf einem Rad des skateboards liegend. Nicht zu reden von der Frau, 26 Jahre alt (Überdosis), im Profil, liegend: Haut und Bindegewebe, aufgeschnitten unterhalb der Brust, hochgerutscht wie gekochte Hühnerhaut - das Innere freigelegt. Dies sind nur vier von gut achtzig Witkin -Bildern, die das Forum Böttcherstraße Bremen jetzt zeigt.

Witkin fotografiert seine lebenden und toten Opfer in geschlossenen Räumen, meist im eigenen Studio, bei einfachem Licht. Es sind verkrüppelte Menschen, die Witkin über Anzeigen, oder indem er sie anspricht, für seine Bildprojekte gewinnt; häufig auch Hermaphroditen, (nichtoperierte) Transsexuelle sowie gänzlich unauffällige Sterbliche. Aber er hat auch gute Freunde in exotischen Restaurants, bei den Tierquälern und in der Gerichtsmedizin oder Uni-Pathologie. So daß Witkin auch mit einem Aal (der bekommt die Brust), am ganzen Rumpf aufgeschnittenen Rhesusäffchen (die er für einige Aufnahmen wiederum einkleidet), toten Föten, abgetrennten Köpfen und anderen Leibesteilen aufwarten kann.

Nun ist Witkin nicht eigentlich Portraitist (wie Peter Hujar), und er ist auch nicht zufrieden mit der reinen Inszenierung fremder Phantasien (wie Arthur Tress, „The Dream Collector“). Stattdessen arbeitet Witkin an einem großen Stilleben-Theater. Das quadratische Fenster gibt immer neuen Einblick in das immergleiche Horrorkabinett bei wechselndem Bühnenbild aus einem begrenzten Fundus: allerlei Tücher, schäbiges bis feudales Mobiliar sowie Collagen und Fragmente aus bekannten Gemälden; Masken, Schuhe, Schläuche, Lederriemen sind die wiederkehrenden Requisiten. Im Set erscheinen die Maskierten wie aufwendig präsentierter Schmuck.

Die abgeschlossene Inszenierung, bis zum Negativ, ist für Witkin nur Rohmaterial. Aus dem Negativ entfernt er durch Kratzen ungeliebte Stellen; im Positivprozeß vertieft er den Raum durch zusätzliche „Lichter“. Indem er beim Vergrößern auf das Fotopapier Gewebe legt und die Bilder am Schluß partiell sepia-tönt, läßt er sie - eine Spur zu eifrig „alt“ erscheinen. Nicht die Macht der Geschichte (Kiefer), sondern das Falsche des 19.Jahrhunderts schimmert durch.

Aber die kunsthandwerkliche Nostalgisierung der Fotografien führt vor allem dazu, daß der Betrachter es schwer hat, „echt“ (fotografiert) und unecht („manipuliert“) zu unterscheiden. So werden mindestens zwei Figuren an den Armen per Retusche amputiert (Die Vergeltung von Guernica, Madame X), aber anderen Figuren - besser: Leuten - fehlen wirklich Gliedmaßen. Die Bilder sind anstrengend, wenn man die entscheidende Differenz versucht zu erkennen, und nahezu nichtssagend, wenn man es aufgibt.

Dann überfällt einen ein merkwürdiger Dämmer, und man vergißt, daß es nicht dasselbe ist, ob Leute in Albuquerque/USA ein Baby durch eine Horrorszene krabbeln lassen, oder ob einer fettleibigen Maskierten drei tote Embryos in die Fäuste gedrückt werden, kopfüber (Portrait des Holocaust). Vor Schreck über die an der Schädeldecke zusammengewachsenen schwarzen Männer übersehe ich beim ersten Durchgang, daß sie weiße Spitzenunterhemden tragen (Siamesische Zwillinge).

So beladen sind diese Arbeiten mit hochkarätigen Konnotationen, daß Witkins Versuch, auch die Kunst -Geschichte der Körper durch Nachstellen von Botticellis, Goyas und Catlins neu zu schreiben, dem ganzen Projekt etwas an Kraft nimmt. Die beiden vielleicht neunjährigen Mädchen, die sich an einem Bremer Samstag an der Kasse vorbei in die Ausstellung drücken, bewundern an Witkins Grazien jedenfalls nicht die Wendung des Themas oder die fotochemische Patina. Sondern schlichtweg, daß die drei Frauen auch Pimmel haben. Sprachlos vor Aufregung beißen sich die Mädchen in die Hände.

Witkin setzt auf Schock, aber die brutale Offenbarung des Ungeahnten - Diane Arbus hatte es weit getrieben - reicht ihm nicht. Er möchte, was er zeigt, auch verstecken. Er möchte, was er erfindet, auch gefunden haben. Er möchte, was ihm dargeboten wird, abendländisch geweiht wissen.

Manchmal gelingt es, und das Fürchterliche wird poetisch: ein schwerkranker Mann, fast buchstäblich „Haut und Knochen“ posiert nackt als Leda mit Schwan, Babies und einem riesigen lichten, aufgebrochenen „Vogelei“. Nur eine Fotografie, die Hodenstreckung mit der Möglichkeit, das Gesicht zu zerquetschen, ist ein Sinnbild ohne Verrätselung: der junge Mann, an ein Holzbrett gefesselt, wird an seinem Hodensack in die Höhe gezogen. Eine Schnur verläuft schräg vom Hodensack zur Decke und kommt von dort gerade zurück. Das Gewicht, das den ganzen Körper anhebt, steht über seinem Gesicht: „Wenn du am Geschlecht nicht hältst, verlierst du auch dein Gesicht“. Witkin versicherte mir 1986, daß der Hodentest nicht manipuliert gewesen sei. Man möchte ihm glauben, denn Witkin hat auch gestanden, daß er einen Menschen kreuzigen würde, wenn dieser Mensch „eine Selbst -Erfahrung macht, indem ihm das zugefügt wird“ (Katalog des San Francisco Museum of Modern Art, 1985).

So geht Witkin aufs Ganze und nimmt es doch, mit den Etiketten der Psychologien, wieder zurück. Zu Witkins Biographie gehört, außer dem Unfall-Erlebnis: die Scheidung der Eltern wegen ernster religöser Differenzen (katholisch/jüdisch); drei Jahre bei der US-Armee als Fotograf von Todesopfern (Unfälle und Selbstmorde); erster Sex mit einem Hermaphroditen. Auch erwartet Witkin von jenen Leuten, die mit ihm ihre Extremphantasien („Hodenstreckung“) probieren, eine Art Läuterung, als sei das Ins-Bild-Setzen vergleichbar mit einer Freudschen Analyse.

Tatsächlich ist Witkins Kunst keineswegs therapeutisch. Vielmehr sehe ich ihn dabei, den Riß, der ihn durchläuft, in den Betrachter zu treiben. Was den Betrachter letztlich schwerer irritieren dürfte als die Stummel an Leib und Seele, ist Witkins Versuch, sie mit dem Schönheitsbonus antiker Ruinen zu präsentieren. Die alten Zwillingsbrüder sind bei Witkin noch ganz im Streit: Kunst und Leben.

Ulf Erdmann Ziegler

Joel-Peter Witkin, Forum Böttcherstraße, Bremen. Bis zum 7.Februar 1990. Katalog, 118 Seiten, gebunden, DM 49