Diktaturschaden

Eine blutige Begegnung mit der DDR-Underground-Kunst  ■ G A S T K O M M E N T A R

Paris, die immer wieder totgesagte Kulturmetropole, war eben wieder einmal schneller als die zum Lahmarsch vereinten zwei Hinterbacken an der Spree: die erste Ausstellung des DDR -Undergrounds fand am letzten Wochenende in dem schönen Monsterbau von La Villette statt. Über zweihundert DDR -Künstler, die meisten im besten Übersiedleralter zwischen 20 und 35, stellten dort in der Grande Halle Werke aus, die bisher nur in Hinterhauswohnungen, Kneipen oder Schuppen zu sehen waren. Viele, da sie noch nie soviel Platz gehabt hatten, haben ihre Installationen und begehbaren Skulpturen erst an Ort und Stelle entworfen und aufgebaut. Es war erfrischend, in dem „Commissariat“ genannten Organisationsbüro Angehörige der deutschen Stämme hinter der Mauer zu entdecken, deren Herkunft nicht schon von weitem an der Stonewashed-Bluejeans-Uniform zu erkennen war: viel schwarz, Leder, viel Kehlkopf und Hals mit Ader - DDR -Dableiber im Ausland, individuell und anarchisch. Auch sonst hinterließen die Deutschen „hors les murs“ einen starken Eindruck. Das „Starke“ daran muß ich allerdings als einziger Germane, der aus dem Westen und aus seiner Art von Trotz im schwarzen Anzug kam - ganz subjektiv erläutern. Ich habe lange, genauer gesagt seit den ästhetischen Blutbädern, die weiland Mühl und Nitsch vor gut 20 Jahren angerichtet haben, nicht mehr soviel Schweinefleisch, Blut, Eingeweide, Hoden, Schamhügel künstlerisch arrangiert gesehen. Als Motto stand über dem „Commissariat“ der Spruch „Die Faust im Muttermund“ und nahm irgendwie Fleisch an in Gestalt des zehn Meter langen Schaschliks, das Elsa Gabriel in geduldiger Hack- und Sägearbeit bis zur Decke der Grande Halle emporfädelte. Als treuer Leser von Heiner Müller kann ich Erschrecken nur heucheln und merke nur an, daß in Paris von den bekannten Zutaten des Müller-Cocktails der Samen fehlte. Das Schwein jedenfalls, in jedweder Gestalt, war das uneingestandene Leitmotiv der Pariser Veranstaltung. Da bei westlich verwöhnten Aktionskunstkonsumenten (und im Schweinesystem polizeilich gemeldeten) wie mir der Schock ausbleibt, kann ich hier nur mit Interesse dienen. Neuigkeit, Avantgarde, das ist klar, kann der Szene in der DDR nur zuschreiben, wer die Großväter und Urgroßväter dieser Schlachtkunst nicht kennt.

Daß das alles schon einmal und besser dagewesen ist, ist seit der Erfindung der Wundertüte namens „Postmoderne“ ja auch kein Argument: „Auf den Mix“, so sagte es der Promoter der DDR-Szene, Christoph Tannert, „kommt es an.“ Ob es sich dabei um einen spezifischen DDR-Mix handelt, darf man bezweifeln und ist wohl auch Nebensache. Nicht zu bezweifeln ist, daß die blutigen Alpträume der DDR-Szene eine durchaus eigene Dringlichkeit ausdrücken: zu sehen ist eine Explosion von Gewalt - Haß - und Zerstörungsenergien, die wir in den nächsten Jahren vermutlich nicht nur in Kunstgestalt zur Kenntnis zu nehmen haben. Verspieltheit, Formwille oder gar Schönheitssinn, wie sie etwa Joachim Böttcher-Strawalde oder auch Micha Brendel zugestehen, gelten als Verbrechen und sind die Ausnahme. DDR-Antikunst, wie sie in Paris zu sehen war, funktioniert vorläufig als soziale Therapie, Blutkoffer und elektrische Knochensäge ersetzen den Pinsel. Das Wort vom Diktaturschaden machte in Paris die Runde. Wenn der einmal ausgetobt ist, wird vom spezifischen DDR-Mix nicht viel übrigbleiben. Das Charisma der Dissidentenkunst ist ebenso Geschichte wie das Bauwerk, in dessen Schatten es gedieh. Herausstellen wird sich endlich, daß es weder eine West- noch eine Ost-Kunst gibt, sondern lediglich mehr oder minder gute Künstler.

Peter Schneider