Schwenk in der schwedischen Atompolitik?

Nach der Regierungsumbildung herrscht Unklarheit über geplanten Ausstieg aus der Atomenergie / Die ausstiegsentschlossene Energieministerin Dahl wurde gefeuert  ■  Aus Stockholm G.Pettersson

Wenn's um Atomkraft geht, schlagen die Schweden alle Rekorde. Nicht nur, daß sie pro Kopf am meisten Atomenergie verbrauchen. Auch der Ausstiegsplan, den das Parlament im Frühjahr '88 beschlossen hat, ist international gesehen der konsequenteste: Abschalten aller zwölf Reaktoren bis zum Jahre 2.010. Doch in der jüngsten Regierungsumbildung sehen viele Kommentatoren und Beobachter einen Bremsklotz auf dem Weg in ein atomfreies Schweden.

„Es ist zwecklos zu bestreiten, daß die Verlagerung der Energiepolitik von Birgitta Dahl auf Rune Molin eine neue Kernkraftpolitik signalisiert“, brachte Schwedens größte Morgenzeitung die aktuelle Situation auf den Punkt. Wurde doch mit Rune Molin, dem bisherigen stellvertretenden Vorsitzenden des Gewerkschaftsdachverbandes LO, ein Politiker zum Industrie- und Energieminister ernannt, der durch den raschen Takt des Ausstiegs eine Krise in Beschäftigung und Wohlfahrt befürchtet. Wie LO-Chef Stig Malm und die Vorsitzenden der mächtigen Einzelgewerkschaften Metall, Chemie, Papier und Bergwerk sieht Molin durch ein zu frühes Dichtmachen der Atommeiler die Wettbewerbsfähigkeit der schwedischen Wirtschaft in Gefahr und die Frage preiswerter alternativer Energie unbeantwortet. Denn der Reichstag hat nicht nur einen raschen Ausstieg beschlossen, sondern auch den Nicht-Ausbau der vier noch unberührten Flußläufe im Norden Schwedens.

Darüber hinaus hatte sich die streitbare Energieministerin a.D. Birgitta Dahl vom Parlament absegnen lassen, daß in den kommenden Jahren nicht mehr Kohlendioxid in der schwedischen Luft rumschwirren darf als 1988.

Anders als Rune Molin und generell die Gewerkschaften war Birgitta Dahl davon überzeugt, daß Schweden gut gerüstet sei für eine Zukunft ohne Atomenergie. Ihre Formel: Bereits erschlossene Wasserkraft, nicht-fossile Brennstoffe plus Naturgas. Außerdem plädierte sie für radikale Umstellungen in der Produktion. Dem Kostenargument hielt sie entgegen, daß Energie in Schweden einfach zu billig gewesen sei. Da müsse auch die Industrie umdenken. Wohlfahrt und Beschäftigung wollte sie unabhängig vom Ausstiegsdatum durch andere Maßnahmen gesichert wissen. Regierungschef Ingvar Carlsson war dabei auf ihrer Seite.

Doch nicht nur die Industrie hatte Schwierigkeiten mit der Position der Politikerin. Vor allem die Gewerkschaften warfen ihr vor, mit gezinkten Karten zu spielen. „Kernkraft abschalten, Wasserkraft nicht ausbauen und den Ausstoß von Kohlendioxid eindämmen wollen - das geht nie und nimmer unter einen Hut“, klagte beispielsweise LO-Chef Stig Malm. Aufschub des Ausstiegsplans um mindestens drei Jahre und in den Papierkorb mit dem Beschluß über den Nichtausbau der Flußläufe - so lauteten einige der konkreten gewerkschaftlichen Begehren.

Auf dem Konflikt zwischen Gewerkschaften und Regierungspolitik reagierte Regierungschef Ingvar Carlsson im Oktober vorigen Jahres mit der Gründung einer Arbeitsgruppe. Ihr Ziel: Überprüfen, wie die drei unterschiedlichen Energiebeschlüsse vereinbart werden können. Mitglieder der Arbeitsgruppe: Stig Malm, Rune Molin, Birgitta Dahl und Ingvar Carlsson.

Einer der vier ist nun Industrieminister mit dem zusätzlichen Kompetenzbereich Energiepolitik, ein anderes Gruppenmitglied entmachtet und auf das Ressort Umwelt zurückgestutzt. Auf die Absetzung der Ausstiegsministerin Dahl und die Ernennung Rune Molins reagierte die Stockholmer Börse mit kräftigem Aufschwung, dem sogenannten Dahl-Effekt. Der neue Energieminister versprach der Wirtschaft „eine langsichtige Energiepolitik“. Und der Regierungschef versicherte, an der bisherigen Regierungslinie in Sachen Energie habe sich durch die Kabinettsumbildung nichts geändert. „Kernkraft soll durch eine neue und sichere Energie ersetzt werden, die Wachstum, Wohlfahrt und gute Umwelt sichert“, sagte er auf einer Pressekonferenz.

Im April will die „Viererbande“ Malm, Molin, Dahl und Carlsson die Öffentlichkeit wissen lassen, wie das mit den drei Energiebeschlüssen weitergehen soll, ein Regierungsvorschlag soll dem Reichstag bis Herbst vorliegen. Da wird man erfahren, wer sich durchgesetzt hat: die Dahl oder die Molin-Linie, Ausstieg oder Aufschub.