Warten. Sterben. Erinnern.

■ Heinz Bütlers „Was geht mich der Frühling an...“

Ein Dokumentarfilmer besucht über mehrere Monate die Bewohner eines jüdischen Altersheims in Wien, unterhält sich mit ihnen und filmt die Neunzig- und Hundertjährigen bei den Gesprächen und in ihrem Alltag. Zwei seiner dreizehn Gesprächspartner sterben während der Dreharbeiten. Jetzt hat Heinz Bütler Bilder seines Films und kurze Passagen der Gespräche zu einem Buch montiert, das vom Tod, vom Alter und von den nicht verheilten Wunden der Überlebenden des Völkermords an den europäischen Juden erzählt. Die Montage ist klug: Sie vertraut auf den Ausschnitt, statt ganze Lebensgeschichten zu erzählen. Die Ausschnitte verdichten sich zum Bild eines Zustands: Des zähen, gedehnten, in Erinnerungen versunkenen Lebens im Altersheim.

Bütlers Buch ist weniger Kunstwerk als Dokument: Keine vergrößerten, inszenierten, betonten Gefühle, sondern nüchtern und aufmerksam festgehaltene Geschichten und Augenblicke. Das grobkörnige, die Kontraste abdämpfende 16 -mm-Filmmaterial unterstreicht diese Sprödheit. Dem Blick des Dokumentaristen entspricht der Tonfall der alten Menschen: Sie formulieren große Verzweiflungen lakonisch, nüchtern, ohne sich etwas vorzumachen und ohne in die Posen des Selbstmitleids zu fallen. Ein Zitat Robert Walsers, das Bütler in seinem knappen Vorwort benutzt, zeigt, wie dieses Sprechen über das Sterben, die Einsamkeit, die Erinnerungen ohne falsche Töne möglich wird: „Verlegene sind's, die die Verlegenheit lösen; Stammelnde sprechen besser als Redegewandte.“ Mit Gewandtheit läßt sich über einiges nicht sprechen, sondern nur darüber hinweglügen. Die Menschen, denen man hier begegnet, haben diese Gewandtheit nicht (mehr) nötig. Das macht ihre Größe aus.

Oft erzählen sie von der toten Gegenwart. Das Leben ist vorbei, die Zeit, die noch übrig bleibt, wird zu einem langen, sinnlosen Warten. „Jetzt ist für mich nichts, heute. Alles ist Vergangenheit. Was ich gemacht habe, das ist alles vorbei. Ich sage Ihnen: Alles ist vorbei. Wenn mein Sohn etwas von mir verlangt, sage ich nein. Er möchte, ich solle alle Zeitungen lesen. Dann sage ich ihm: Das ist schon nicht heute. Das war einmal. Das geht mich nichts an, weil nichts ist schon für mich. Jeder Tag ist jedenfalls für mich zuviel“, sagt eine Frau. Eine andere spricht nur noch „den ganzen Tag“ mit ihrem toten Mann und will ihm ins Grab folgen („Komm hol‘ mich zu Dir ins Grab hinein“).

Es sind bittere Biographien. Einige der Porträtierten sprechen von ihrer KZ-Gefangenschaft, andere von Angehörigen, die im Faschismus von Deutschen ermordet wurden. Eine der Frauen wurde 18jährig in Auschwitz Opfer medizinischer Experimente. Eine andere spricht vom Druck ihrer Erinnerungen: „Ich darf mich nicht erinnern! Sonst... Ich habe viel mitgemacht. Ich hätte lieber umkommen sollen. Was habe ich davon? Ich stehe allein da. Daß der Mensch das aushalten kann!“ Gleichzeitig erzählt sie vom Glück des Erinnerns: „Ich war auch einmal jung. Das ist schon lange her.“ Man kann diese ausdrucksvollen Gesichter nicht betrachten, ohne an das eigene Altern zu denken. Sie zeigen die Lächerlichkeit einer konsumistischen Yuppie-Kultur, die ihre bewußtlose Sicherheit erkauft mit der konsequenten und panischen Verdrängung des eigenen Todes.

Godard sagt, daß der Film den Tod bei der Arbeit betrachte. Porträtphotographie betreibt das Gegenteil: Sie versucht, „das Bild anzuhalten, während die Zeit weiterläuft. Merkwürdig jedoch, wie selten dieses Anhalten gelingt, auch und gerade beim Porträt“, schrieb Ulf Erdmann Ziegler vor einiger Zeit in der taz. Genau das gelingt den Porträts Heinz Bütlers: Die aus der Bewegung des Films geschnittenen Bilder halten Augenblicke des Lebens fest.

Peter Laudenbach

Heinz Bütler: Was geht mich der Frühling an... Picus Verlag Wien, 230 Seiten, 110 Abbildungen, 54 DM