Nicht alle Wege führen nach Jerusalem

■ Nathan Birnbaum - von der Geschichte vergessen

Henryk M.Broder

Am 1.März 1896, zwei Wochen nach dem Erscheinen seiner Schrift Der Judenstaat, bekam Theodor Herzl Besuch von drei Herren. Am selben Tag notierte er in sein Tagebuch: „Die Zionisten Birnbaum, Jacob Kohn und Landau besuchten mich gleichzeitig und haderten miteinander... Birnbaum will nur die Agitation in wissenschaftlichen Wochenschriften, Landau will überall agitieren, Kohn nur in Wien. Es ist geradezu entmutigend, wie spinnefeind sie untereinander.“

Ein Jahr später, am 10.März 1897, traf Herzl wieder mit Birnbaum zusammen. Die Begegnung verlief unerfreulich. „Birnbaum selbstbewußter und innerlich mir feindseliger als je.“ Herzl hatte Birnbaums Ersuchen abgelehnt, dessen Kandidatur zum Österreichischen Reichsrat in einem galizischen Wahlbezirk zu unterstützen. „Ich verweigerte ihm im Hinblick auf die vorgerückte Zeit - es fehlen nur noch acht Tage zur Wahl - meine Unterstüzung, weil wir durch ein mißlingendes Experiment das mystische Prestige unserer Bewegung in Galizien kompromittieren könnten. Er wird mir dieses Nein nie verzeihen...“

Theodor Herzl und Nathan Birnbaum mochten einander nicht. Wer Herzl war, weiß man. Aber wer war Nathan Birnbaum?

Nathan Birnbaum wurde am 16.Mai 1864 in Wien als Kind ostjüdischer Eltern geboren, die in die Hauptstadt des k.u.k. Reiches gekommen waren. 1882, mit 18 Jahren, gehört er zu den Mitbegründern der ersten jüdisch-nationalen Studentenvereinigung „Kadima“ (Vorwärts) an der Wiener Universität; 1884 veröffentlicht er seine erste Schrift, ein Pamphlet unter dem Titel: Die Assimilationssucht - Ein Wort an die sogenannten Deutschen, Slaven, Magyaren etc. mosaischer Konfession von einem Studenten jüdischer Nationalität; 1885 begint er mit der Herausgabe der Zeitschrift 'Selbstemancipation‘, die bis 1887 und dann wieder von 1890 bis 1893 erscheint. Darin prägt er die Begriffe „Zionismus“, „Zionist“ für eine Bewegung und deren Anhänger, die sich bis dahin „Zionsfreunde“ aus „Zionsliebe“ nannten. 1887 promoviert er an der Wiener Universität zum Dr.jur.; 1893 erscheint seine Schrift Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in einem Lande als Mittel zur Lösung der Judenfrage. Ein Appell an die Guten und Edlen aller Nationen. In den Jahren 1896/1897 redigiert er die Monatszeitschrift 'Zion‘ in Berlin, 1903 bringt er in Wien sein eigenes Monatsblatt 'Der Weg‘ heraus, 1906/1907 das Wochenblatt 'Neue Zeitung'; 1907 kandidiert er - vergeblich

-bei den Wahlen zum Österreichischen Reichsrat; 1908 ruft er die „Jüdische Sprachkonferenz“ nach Czernowitz ein, auf der Jiddisch, neben Hebräisch, zur zweiten Nationalsprache des jüdischen Volkes erklärt wird. Von 1908 bis 1911 lebt Birnbaum in Czernowitz, wo er die Zeitschriften 'Das Volk‘ und 'Dr.Birnbaums Monatsschrift‘ herausgibt, die letzte in jiddischer Sprache. 1911 zieht Birnbaum nach Berlin, wo er, mit Unterbrechungen, die nächsten zwei Jahrzehnte bleibt. Er beschäftigt sich fast nur noch mit der Frage, wie ein gesetzestreuer Jude die Gebote der Thora optimal erfüllen kann. Seine Schriften heißen Gottes Volk (1917), Vom Freigeist zum Gläubigen (1919), Um die Ewigkeit (1920), Im Dienste der Verheißung (1927). Im Jahre 1919 wird er für eine kurze Zeit Generalsekretär der als Gegenbewegung zum politischen Zionismus agierenden Partei „Agudat Israel“ (Sammlung Israel). Von 1930 bis 1933 gibt er in Berlin die Zeitschrift 'Der Aufstieg‘ heraus, kurz vor der „Machtergreifung“ zieht er nach Holland, läßt sich in Scheveningen nieder, publiziert dort die Zeitschrift 'Der Ruf‘. 1936 erscheint sein letztes Buch: Rufe, sein „Testament an das jüdische Volk“. 1937 stirbt Nathan Birnbaum im holländischen Exil, er hinterläßt ein umfangreiches Werk in deutscher, hebräischer und jiddischer Sprache, Hunderte von Essays, Reden, Kritiken, aber auch belletristische Arbeiten wie die Novelle Die Dorfjuden, den Entwurf zu einem jüdischen Zukunftsroman Nach tausend Jahren und den Einakter Ich bin Salomo.

1925 erschien ein „Sammelbuch zu Ehren Nathan Birnbaums“, das Vom Sinn des Judentums hieß und auch eine (unvollständige) Bibliographie seiner Schriften enthielt. Die Herausgeber baten die Leser um „Angaben von Lücken... an die Adresse des Verlages„; danach hat Birnbaum noch zwölf Jahre weiter geschrieben und veröffentlicht, sein Oeuvre wurde bis heute weder erfaßt noch aufgearbeitet. Der Mann, der den Begriff „Zionismus“ geprägt hat, wurde einfach vergessen, von der Geschichte, den Juden, den Zionisten. Es gibt keine Birnbaum-Straße in Jerusalem, keinen Birnbaum -Platz in Tel Aviv. Halbwegs belesene Menschen, die Nordau von Gordon und Jabotinsky von Arlosoroff unterscheiden können, wissen mit Birnbaum nichts anzufangen. Wie kommts? Es mangelt ihm an der Eindeutigkeit, die historische Gestalten auszeichnet und sie leicht identifizierbar macht. Sein Leben war wie sein Werk - voller Widersprüche und Gegensätze und dabei immer dicht besetzt wie eine Synagoge zu Jom Kippur.

Nathan Birnbaum nannte sich auch Mathias Acher. Acher heißt auf Hebräisch „ein anderer“. Er hat das Pseudonym nicht zufällig gewählt. Kaum hatten sich seine Zeitgenossen damit vertraut gemacht, was er ihnen zu sagen hatte, wurde er schon „ein anderer“, ein eigenes Alter ego: Ein Nationaljude, der vor der Gefahr der Assimilation warnte und das jüdische Problem politisch lösen wollte; ein Kulturzionist, der das Leben der Juden in der Diaspora durch Erziehung und Bildung verbessern wollte; ein Rückkehrer zum Glauben, der „die Grenzen, die der Materialismus dem Denken setzt“, ignorierte und schließlich ein orthodoxer Reformer, der „das große Ideal“ verkündete: „Schaffung des neuen jüdischen Menschen auf Thorabasis, des natur- und gottnahen, des schöpferischen, des harmonischen, des tat- und lebensfrohen“, d.h. eines vom Glauben motivierten jüdischen Bauerntums, in dem „ein großes Stück Lösung und Erlösung zugleich beschlossen“ wäre.

Birnbaums Pech war nicht nur, daß es ihm an der Gradlinigkeit mangelte, die eine Einlaßbedingung in die Geschichte ist, er war außerdem „ein Fanatiker der Persönlichkeit, des Ich“, wie der Schriftsteller Leo Herrmann in einer 1914 erschienen Schrift über Nathan Birnbaum - sein Werk und seine Wandlung bemerkt. Herrmann, selbst ein praktizierender Zionist, nimmt Birnbaum vor dem Vorwurf in Schutz, er sei „nur ein Theoretiker geblieben, ohne Wirkung und ohne Tat“. Darauf käme es Birnbaum nicht an, er habe „kein Verhältnis zur politischen und diplomatischen Arbeitsweise“, Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit bedeuten ihm nichts, für taktische Gründe habe er kein Verständnis, Konsequenz sei keine Tugend, die man ihm vorwerfen könne: „Einmal war er Zionist, dann wieder focht er fürs Golus, einmal hatte er die hebräische Sprache gelten lassen, dann wieder die jiddische über alle Maße verteidigt...“ Das Publikum war entsprechend verwirrt: „Teile verstand man, das Ganze konnte man kaum zusammenhalten.“

Während Herzl sich durch eine „harmonische Geschlossenheit“ auszeichnete, „durch jene Sicherheit, die er selbst errungen hatte und die von ihm auf andere ausstrahlte“, war Birnbaum „immer mehr zu einem Apostel der Entwicklung geworden..., der tausend Möglichkeiten des Lebens“.

Mit dem Unterschied der intellektuellen Charaktere allein ließe sich die Aversion, die zwischen Birnbaum und Herzl bestand, vermutlich nicht erklären. Es gab noch einen weiteren, praktisch-handfesten Grund. Birnbaum hatte im Jahre 1893 in Wien seine Schrift Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande als Mittel zur Lösung der Judenfrage veröffentlicht. Drei jahre später, 1896, erschien Herzls Der Judenstaat - Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Birnbaum und Herzl hatten, unabhängig voneinander, das gleiche Buch geschrieben! Beide waren der Meinung, dem Antisemitismus sei weder mit Aufklärung noch mit Assimilation beizukommen, Juden müßten sich als Territorialnation organisieren, um der Gewalt ihrer Wirtsvölker zu entkommen und durch eigener Hände Arbeit zu gesunden. Beide waren der Meinung, die Schaffung einer jüdischen Heimstätte würde die anomale Lage der Juden normalisieren und auch das Leben der Juden erleichtern, die in ihren alten Heimatländern bleiben würden.

„Mag auch der einzelne Jude ein Vaterland haben, das jüdische Volk hat keines, und das ist sein Unglück. Das jüdische Volk muß wieder sein eigenes Stück Erde unter den Füßen fühlen und aus dem Heimatsboden neue materielle und moralische Kräfte ziehen...“ heißt es bei Birnbaum.

„Wir sind ein Volk, der Feind macht unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte so war. In der Bedrängnis stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft. Ja, wir haben die Kraft, einen Staat, und zwar einen Musterstaat zu bilden. Wir haben alle menschlichen und sachlichen Mittel, die dazu nötig sind...“, liest man bei Herzl.

„Land, Land! - darin liegt also das Geheimnis der Lösung der Judenfrage“, ruft Birnbaum aus.

„Man gebe uns die Souveränität eines für unsere gerechten Bedürfnisse genügenden Stückes der Erdoberfläche, alles andere werden wir selbst besorgen“, verspricht Herzl.

„Man mag also die Sache nach welcher Seite auch immer betrachten, die von den Zionisten vorgeschlagene Art der Lösung der Judenfrage liegt im Interesse der ganzen zivilisierten Welt, im Interesse aller Nationen und Parteien“, schreibt Birnbaum.

„Die Welt wird durch unsere Freiheit befreit, durch unseren Reichtum bereichert, und vergrößert durch unsere Größe. Und was wir dort für unser eigenes Gedeihen versuchen, wirkt machtvoll und beglückend hinaus zum Wohle aller Menschen“, resümiert Herzl.

Herzls Entwurf war umfangreicher, detaillierter und konkreter als Birnbaums eher allgemein gehaltener „Appell an die Guten und Edlen aller Nationen„; während Birnbaum etwas schwerfällig formulierte, brachte Herzl viele komplizierte Tatbestände auf einfache, griffige Formeln, die sich gut lasen und im Gedächtnis blieben („Die Völker, bei denen Juden wohnen, sind alle samt und sonders verschämt und unverschämt Antisemiten...“) Aber sowohl in der Analyse der Situation wie in der Wahl der Mittel zur Lösung des Problems waren sie sich einig. Hätte Herzl bei Birnbaum abgeschrieben, wäre die Sache einfach zu erklären gewesen. Aber Herzl hatte, als er seinen Judenstaat schrieb, BirnbaumsAppell nicht gelesen (wie er auch Pinskers schon 1882 erschienene Auto-Emanzipation nicht kannte). Und während Birnbaums Schrift in der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt blieb, machte Herzls Buch bald Furore, wurde zur Bibel der zionistischen Bewegung. Birnbaum mußte argwöhnen, Herzl würde die Früchte seiner Arbeit ernten, und Herzl mußte befürchten, Birnbaum könnte das ideelle Urheberrecht am Judenstaat geltend machen. Unter solchen Umständen wurde die geistige Verwandtschaft die Basis einer soliden Feindseligkeit, gerade die Tatsache, daß sie gleich dachten, führte Birnbaum und Herzl auseinander. Herzl hatte, durch Zufall, Glück oder Gespür, den richtigen Moment der Geschichte erwischt, Birnbaum fühlte sich übergangen, wenn nicht betrogen.

Während Herzl die zionistische Bewegung auf das große Ziel hin orientierte - Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina -, rückte Birnbaum nach und nach von den Dogmen ab, die der Bewegung als Fundament dienten. „Das Dogma von der relativen Gleichförmigkeit und absoluten Unabänderlichkeit der Lage der Juden unter den anderen Völkern“ sei bedenklich, schrieb er im Jahre 1903 nach dem sechsten Zionistenkongreß, „diese Lehre führt zu einer Art von höherer Wurstigkeit gegenüber aller Entwicklung der übrigen zivilisierten Völker, unter welchen der jüdische Stamm zu einem großen, vielleicht größeren Teile wird wohnen müssen“. Es sei eine Entwicklung denkbar, schrieb er schon 1896 in Die jüdische Moderne, die zu einem Zustand führt, „in welchem der Kampf ums Dasein von den Kulturmenschen aller Nationalitäten im wesentlichen nur gegen die Elementarmächte oder höchstens gegen wild gewordene Völkerschaften ausgefochten wird“. Er glaube nicht „an die Ewigkeit des Nationalhasses“, wenn „der Nationalhaß und daher auch der Judenhaß aufhören werden“, werde es „möglicherweise keine Judenfrage“ mehr geben. In derselben Arbeit nannte er Herzl einen „Neuling, von angesehenem Namen und mit der ganzen Voraussetzungslosigkeit eines Neulings ausgestattet“, dessen Buch seinem „bekannten Verfasser zuliebe viel und ausführlich besprochen“ wurde. In einem anderen Artikel macht sich Birnbaum über Herzls „opportunistische Neigungen“ lustig und auch über das Wirken der „praktischen“ Zionisten, jener „Musterdiplomaten, welche ihren Talleyrand studiert haben und wissen, daß die Sprache zum Verbergen der Gedanken da ist...“. Sie würden „allmählich einen Juden nach dem anderen“ nach Palästina schicken, „eine Kolonie nach der anderen gründen“, damit die Türken nicht merken, daß sie es „auf ein Stück des osmanischen Reiches abgesehen“ haben und auch „viele Geldgeber nicht erfahren, daß es sich am letzten Ende um einen Judenstaat handle... 'Infiltrieren‘ hat es Herr Dr.Herzl in seinem Buch genannt...“ Birnbaum nutzt jede Gelgenheit, „mit dem mir seit jeher verhaßten Prinzip des 'Praktischen‘ abzurechnen“, er streitet gegen „Parteientum und Diplomatismus“. Er nennt es den „gewaltigsten Irrtum, den ich seinerzeit mitbeging, aber nicht mehr mitbegehen will, die Sache des jüdischen Volkstums auf die Karte des Antisemitismus zu setzen“. Es sei falsch, diesem Volkstum „eine gebundene Marschroute zu geben, ihm vorzuschreiben, daß es sich nur nach einer Richtung und nach einem Ziele hin fortbewegen solle. Es ist willkürlich, alle Kulturansätze im Golus einfach nur als wertvollen Kulturdünger auf einem Boden, den wir noch nicht haben, zu betrachten. Man darf dem jüdischen Volke auch nicht eine einzige von den vielen Kulturmöglichkeiten, deren es nach- und nebeneinander fähig ist, absprechen...“ Es gäbe keinen Grund, „sich vor diesen verschiedenen Gesichtern des neuen Judentums zu fürchten. Denn es wird lebendes Judentum sein, das diese verschiedenen Formen füllen wird. Wenn uns die Entwicklung, sagen wir, zwei jüdische Nationalitäten beschert, was schadet es?“

Mit derselben Vehemenz, mit der er für die Schaffung eines „nationalen Zentrums“ für die jüdische Nation agitiert hat, setzt er sich für den Erhalt der Vielfalt jüdischer Lebensformen ein. Er ist nicht dagegen, Palästina zu besiedeln, auch wenn er einräumt, „daß es in der Diaspora mehr Palästinafreunde gibt als in Palästina selbst“ und damit jenen wunden Punkt bezeichnet, der die zionistische Bewegung bis heute charakterisiert. Er möchte nur der Kolonisation keine Priorität gegenüber anderen Aufgaben geben. Arbeiten die Zionisten auf ein Ende des „Golus“, der Diaspora hin, will Birnbaum die Lebensbedingungen der Juden in der Diaspora verbessern, ihren religiösen und kulturellen Zusammenhalt stärken. Dazu gehört auch die Pflege der jiddischen Sprache, die von den Zionisten als „Jargon“, als ein Symbol des Ghettos, verachtet und bekämpft wird.

„Birnbaums Absicht ist es, die Berechtigung der territoriumslosen jüdischen Nationalkultur zu erweisen, die Möglichkeit und Notwendigkeit der Erhaltung dieses Typus zu begründen“, schreibt Leo Herrmann im Jahre 1914, denn: „Nicht alle Wege führen nach Jerusalem.“ Birnbaum selbst sagt es noch knapper: „Israel geht vor Zion.“ Was heißt: Zuerst kommt das jüdische Volk (Israel), dann erst die zionistische Idee. „Zion selbst ist ohne diese Erkenntnis nicht zu erreichen. Möchte dies eingesehen werden, bevor es zu spät wird, bevor Israel im würde- und planlosen Fanatismus seiner Söhne 'Zion‘ im ohnmächtigen Größenwahn seiner Freunde versinkt!“

Diese Sätze wurden im Jahre 1905 geschrieben. Aus dem Abstand von über 80 Jahren lesen sie sich wie eine prophetische Warnung. Zwar steht der Untergang Zions im „ohnmächtigen Größenwahn seiner Freunde“ nicht umittelbar an, ist aber eine Option, die nicht ausgeschlossen werden kann. Eine andere Vorhersage Birnbaums hat dagegen schon Gestalt angenommen. Die „zwei jüdischen Nationalitäten“, deren Entwicklung er 1903 annnahm, haben sich längst konstituiert - eine im „Gokus“, eine im Staat Israel. Allen Beschwörungsformeln von einem jüdischen Volk („Am echad!“) zum Trotz und ungeachtet der materiellen Abhängigkeit des jüdischen Staates von der Diaspora und der spirituellen Abhängigkeit der Diaspora vom jüdischen Staat, handelt es sich um zwei separate „Entities“ mit jeweils eigenen Interessen, die sich historisch und kulturell auseinanderentwickeln. Während in der Diaspora die Vielfalt jüdischer Lebensformen weitgehend erhalten bleibt, wird in Israel der Versuch unternommen, das Judentum zu „vereinheitlichen“, es in eine Art Uniform zu pressen, die es noch nie getragen hat. Wer Jude ist, bestimmt der Innenminister entsprechend dem politischen Interesse der Partei, der er angehört. Die Frage, ob die besetzten Gebiete zurückgegeben werden dürfen, wird von den Oberrabbinern als ein halachisches (religionsgesetzliches) Problem behandelt. Der „jüdische Charakter“ des Staates wird gesichert, indem die staatliche Fluglinie El Al an Samstagen und allen jüdischen Feiertagen mit einem Flugverbot belegt wird. Was das Judentum immer ausgezeichnet und erhalten hat - das Fehlen einer zentralen Autorität, das Nebeneinander verschiedener Lebensformen - wird in Israel der Staatsräson geopfert. So betrachtet, mag ein „jüdischer Staat“ die Antithese zur „jüdischen Kultur“ sein, für deren Erhaltung Birnbaum zeitlebens gestritten hat.

Er selbst war, bildlich und buchstäblich, die Verkörperung dieser Kultur. Als wollte er die Praktikabilität seiner Forderung beweisen - „Man darf dem jüdischen Volk auch nicht eine einzige von den vielen Kulturmöglichkeiten, deren es nach- und nebeneinander fähig ist, absprechen...“ - hat er diese Möglichkeit nach- und nebeneinander praktiziert. Birnbaum war „ein ins Westjudentum verschlagener Ostjude, der den Weg in sein heimatliches Ostjudentum wiedergefunden hat“ (Leo Herrmann), er war Hebraist und Jiddischist zu einer Zeit, da man nur das eine oder das andere sein durfte, er war für den Aufbau eines jüdischen Palästina, und für den Erhalt der Diaspora, er war Zionist, und er gehörte der „Agudat Israel“ an, die den Zionismus als Gotteslästerung verdammte; er vertrat Ansichten, die er mit demselben Nachdruck verwarf. Was immer er tat und welche Wahrheit er auch verkündete, wofür er sich einsetzte und wogegen er antrat, er tat es immer entsprechend seiner Maxime, die er „für das Wesen und die Aufgabe des Judentums“ hielt, und die nur ein einzelner erfüllen kann: „Beispiel zu sein. Oder überhaupt nicht zu sein.“