Broilermord mit Goldrand, der letzte

■ 200 DDR-Künstler wurden drei Tage lang in einem ehemaligen Pariser Schlachthof ausgestellt

Gabriele Riedle, Alexander Smoltczyk

Zwei Kulturen, die erste: Zum Glück gab es den Empfang bei Hofe. Sonst wäre der Kollege von der Ostberliner 'Neuen Zeit‘, der mangels Valutaausstattung mit einem Rucksack voller Dauerwurst, Brot und Büchsen aus dem HO in Köpenick nach Paris gekommen war, bald völlig ausgezehrt gewesen. Aber dann wurde am vergangenen Samstag im Präsidialpalast ein elysisches Büffet aufgetafelt. Die Lüster und Republikanergarden glänzten („das muß wohl so etwas wie bei uns die 'Sicherheit‘ gewesen sein“), der Zeremonienmeister hob seinen Stab - und das Ehepaar Mitterrand gab einem jeden das Händchen: dem Post-Punk-Rock-Lautmaler Tom Terror und seinem Kollegen „das Beil“, dem sehr, sehr underdressden Gittaristen von „Ornament und Verbrechen“, dem Autoperforationsartisten Micha Brendel ebenso wie der Delegation von „Undine“, der multimedialen Frauengruppe aus Erfurt - kurz: all jenen 200 DDR-Künstlern, die unter anderem der französische Kulturminister Jack Lang für sechs Tage nach Paris hatte einfliegen lassen und die im Kulturzentrum La Villette für drei Tage und 20.000 (dank ungeheuerlichen Medienrummels) Angehörige der Seine -scene zur Begutachtung freigegeben waren. Motto: „Das andere Deutschland - außerhalb der Mauern“.

Praktisch hatte bei den Franzosen so gut wie nichts richtig geklappt. So durften die Ostler ihre Ausstellung in den drei Tagen und Nächten vor der Öffnung weitgehend selbst aufbauen - von Paris konnten sie da buchstäblich nur träumen, und zwar in den Betten ihrer privaten Gastfamilien. Statt eines Honorars wurden ihnen umgerechnet rund 200 DM Taschengeld gewährt, Mittags und abends Plasteteller mit Fleisch hier und Sättigungsbeilage da auf Tabletts an langen Tischen in einer abgeteilten Ecke der riesigen Halle. Dosenbier, Fläschchenwein, Metrofahrkarte für die ganze Woche - alles für alle kostenlos. Freikarte für den Louvre und für das Centre Pompidou - schließlich handelt es sich ja um Künstler, die da in der Grande Halle de la Villette (einer 1864 erbauten 13.000 Quadratmeter großen eisenkonstruierten ehemaligen Viehmarkt- und Schlachthalle) durchgangslagerten: Das sei hier ja wie in Gießen, findet der Frischfleisch-, Blut-, Sperma- und Kotkünstler Volker-Via Lewandowsky. DDR -Kunst im Transit - in jeder Beziehung.

Drei Tage lang Aufbauen, drei Tage Ausstellung, dann wieder zurück nach Ost-Berlin, nach Leipzig, nach Gera - zunächst jedenfalls. Ein mehr oder weniger stressiger, aufregender, enttäuschender, heiterer Betriebsausflug der DDR -Kulturszene. Aber, auch wenn es manche noch nicht richtig wahrhaben wollen: Dies wird vermutlich nicht nur die erste, sondern auch die letzte Veranstaltung dieser Art gewesen sein. Denn auch in der Kultur der DDR wird nichts bleiben, wie es war.

Maler, Bildhauer, Performer, Comic-Zeichner, Plakatkünstler, Rock-Musiker, Literaten, Dokumentarfilmer, Fotografen, Tänzer, Modemacher - seitdem sie nicht mehr alle für immer und ewig auf denselben kleinen Fetzen Europas festgenagelt sind, können sich nun so viele verschiedene DDR -Künstler und Künste an einem Fleck versammeln. Von den ideologischen Vorbehalten einmal abgesehen, hätte die DDR für eine solche Veranstaltung auch gar nicht den Ort gehabt. Keiner hatte ih begrüßt: inoffiziell und nahezu unerkannt, mit kleinem Gefolge, strich Dietmar Keller (SED-PDS) durch die Große Halle. Der Kulturminister der DDR mußte offensichtlich erst über 1.000 Kilometer zurücklegen, um dann dem Ostberliner Ausstellungsmacher und offiziell immer noch reisebeschränkten Christoph Tannert im Schatten eines Turms der geistigen Monolithen, den Volker Lewandowsky an den Eingang gestellt hatte, kleinlaut und kryptisch zu gestehen: „Es ist ja bei uns immer so gewesen, daß die besten Ideen zuerst im Ausland entstanden sind.“

Versagt hatte jeoch nicht nur die DDR-Kulturbürokratie, hinter deren rücken christoph tannert und der französische Journalist Maurice Najman das Projekt bereits im Oktober in Privatinitiative ausgeheckt hatten. Versagt hatten auch die Brüder und Schwestern im Westen. Denn auch dort gab es bisher kein derartiges Festival, bei dem wie hier alle möglichen Ausdrucksformen erstvereinigt worden waren: Malerei, Bildhauerei, Performance, Comic, Plakatkunst, Rockmusik, Literatur, Dokumentarfilm, Fotografie, Tanz, Mode inklusive multimediale Derivate.

Da mußte schon so ein erfahrener Berufskulturrevolutionärsstaat wie Frankreich her. Umgerechnet rund eine Million (West) hatte Lang lockergemacht - die andere karge Million kam von Sponsoren und sich dafürr mit Danielle Mitterrand, die die Schirmfrauschaft übernommen hatte, in der Ausstellung fotografieren lassen. Der absolutistisch-moderne Staat des Fran?ois II. mit seinem sonnigen Kulturminister Jack Lang weiß, wo Ende des 20. Jahrhunderts zum letzten Gefecht geblasen wird: an der Kulturbefreiungsfront. So verleiht Yves Montand Preise in Prag, und Jack Lang bringt Bücher nach Temeswar, bevor die ersten Medikamente in Rumänien eintrafen. Es gibt schlimmere Arten des Kolonialismus.

Aber es war doch höchst amüsant und ernüchternd zugleich, wie bei den drei großen abendlichen Debatten in La Villette die große Geste der Befreiung ins Leere griff, als sie die Gäste aus der DDR erfassen wollte. Auf dem Podium saß die Pariser Intelligenz mit Faye, Virilio, Jouffroy und Baudrillard, daneben Intellektuelle aus Ost- und Mitteleuropa, Künstler vom linken Ufer und deutsch -demokratische Gäste.

Zwei Kulturen, die zweite: Gleich zu Beginn der ersten Debatte gab der Ostberliner Malervater Jürgen Böttcher -Strawalde das Motto der folgenden Gespräche aus: „Ich verstehe ihre Frage nicht.“ Und tatsächlich, die Franzosen interessierten sich für merkwürdige Dinge. Man forschte nach „getrennten Erinnerungen“, nach „balkanisierter Verantwortlichkeit“, fragte gar: „Bedeutet für sie die Demokratie das Terrain, auf dem sich die Freiheit gewinnen läßt, oder ist die Demokratie bereits die Freiheit für sie?“ Da haben die Ostler im Moment wahrhaft andere Probleme. Besorgt äußerte man sich im schleierdramageschüttelten laizistischen Frankreich auch über den wachsenden Einfluß der Kirchen in den zu revolutionierenden Staaten. Aber während die Franzosen hier an den vorrevolutionären Klerus im absolutistischen Ständestaat denken mochten, bedeutet die Kirche für die DDRler eben Pfarrer Eppelmann und die Umweltbibliothek. Zwei Sprachen, keine Verständigung obwohl simultanübersetzt wurde.

Die Schriftstellerin Helga Schubert konstatierte das Scheitern des Dialogs: „Wir kommen aus verschiedenen Welten. Dies hier sind die Diskussionsregeln der bürgerlichen Intellektuellen, und wir haben nie gelernt, damit umzugehen.“ Jean Baudrillard dagegen freute sich in gewohnt diebischer Weise über Sprachlosigkeit und Verunsicherung. Für gegenseitiges Verständnis sei es noch viel zu früh.

Christoph Tannert betonte bei dieser Gelegenheit, daß es sich bei dem Gezeigten - außer bei den Comics - keineswegs um die DDR-Untergrundkultur handele, wie man sie hier so gerne gehabt hätte. Schließlich war etwa auch der einzige Fotografieprofessor der DDR, Arno Fischer, vertreten. Und was die Jungen betrifft: Vor der 'Wende‘ waren sie weder für noch gegen den SED-Staat, sie hatten sich einfach nicht um ihn gekümmert - auch eine Form der Subversion. Tannert führt weiter aus, es hätte für sie trotz allem auch bisher einen nicht unbeträchtlichen Grad an Freiheit hinter der Mauer gegeben. Die Lebenshaltungskosten seien so niedrig gewesen, daß man auch als unabhängiger Künstler gut überleben konnte.

Aber auch dafür, nämlich für die realen Bedingungen, interessierten sich die Westler nicht. Im Gegenteil, der West-Modedichter und Gelegenheitsjournalist Peter Schneider wußte es ja sowieso schon besser. Auf Tannerts Lagebericht entgegnete er mit der ganzen Gewalt einer selbstverliehenen West-Autorität: „Hier muß einiges richtiggestellt werden.“ Einige der DDR-Künstler verließen daraufhin den Saal.

Zwei Kulturen, die dritte: Die Fotografen Jörg Wähner und Kurt Buchwald waren in Sachen Kunst in die Stadt gezogen. Am Eiffelturm und am Arc de triomphe hatten sie - wie im letzten Jahr in Ost-Berlin an der Weltzeituhr - ihre Aktion Fotografieren verboten gemacht und dort entsprechende Verbotsschilder mit durchgestrichenen Kameras aufgestellt. Und wie damals in Ost-Berlin wurden sie auch am Arc de triomphe wegen Schändung eines nationalen Heiligtums verhaftet - wie sich die Systeme dann doch wieder gleichen! Künstler wünscht man sich auch in Paris pflegeleicht.

Zwei Kulturen, die letzte: Via Lewandowsky, selbst schon seit Sommer in West-Berlin, und zwar weniger aus politischen Gründen, sondern eher wegen der künstlerischen Entwicklungsmöglichkeiten, hatte für La Villette die Ausstellungsgestaltung übernommen. In die eiserne Schlachthalle hat er noch einmal kleinere Stahlkonstruktionen gestellt. Gleich am Eingang eine Pyramide mit den beiden Installationen Das sensible Geheimnis von Peter Dittmer und Kulturhaus II von Rainer Görß, außerdem ein Kegel mit einer Installation von ihm selbst und von Micha Brendel und schließlich ein quadratisches Labyrinth, vor dem die Besucher ost -authentisch schlangestehen mußten und in dem Jörg Knöfel wiederum eine Art Schlachthaus mit Ekelfotografien und Grunz -kreisch-Tonbändern nachgebaut hat. Quer durch die Halle zog sich eine Art Mauer aus Stahlplatten, an denen die schön -bunten, schwer-expressiven Post-Beckmann-Bilder der einzelnen Künstler hingen und die - in einer etwas platten Metaphorik - nach und nach fielen. Die Anordnung der verschiedenen künstlerischen Genres in der Halle erfolgte nach dem Stoßdämpferprinzip, wie die Künstler es nannten. Vorne und auf den Balkonen an der Seite die Installationen und die abstraktere Malerei, dann die figurativeren Arbeiten, dahinter Fotografie und Film als meist schon dokumentarische Medien und schließlich - in einer immer stärkeren Verdichtung - die leibhaftigen Performer, Tänzer oder Schauspieler auf der kleineren Bühne oder Musiker im großen Saal.

Messeatmospähre: Die meisten Künstler waren während der gesamten Öffnungszeit von Mittag bis Mitternacht anwesend; Galeristen, Verleger, Produzenten taten sich um, schnell wurde eine Schallplatte gemacht, Kontakte wurden geknüpft. Und die Künstler beantworteten geduldig auch zum 150. Mal die Frage: „Was wollen Sie damit ausdrücken?“ mit dem Hinweis, vielleicht lieber selbst nachzudenken. Zu den erhofften Spontan-Joint-ventures - beispielsweise zu einer gemeinsamen Modenschau Allerleihrauh-Gaultier - kam es übrigens nicht. Ein französischer Mitorganisator: „Wie soll man jemanden in einem Land wie Frankreich mobilisieren, wo sich nichts mehr bewegt?“

Ansonsten machte man sich heftige Gedanken, was denn nun eigentlich die DDR-Kultur sei, sofern es sie überhaupt jemals gegeben hat. Abgesehen vom bekannt-beliebten hohen Traditionsbewußtsein (Stichwort: akademische Ausbildung, Anknüpfung an Vorkriegstraditionen etc.), waren die Künstler und Künste hauptsächlich mit Märtyrer- und Medienfunktionen beschäftigt, in dem sie dokumentierten und öffentlich machten, was die Parteimedien entweder nicht interessierte oder was diese verschwiegen. Schon deshalb werden sich Kunst und Künstler - in dem Maße, in dem die Medien diese Funktionen übernehmen - in Zukunft neue Beschäftigungsfelder suchen müssen.

Ein weiteres Spezifikum der DDR-Kultur ist die Arbeit am Fleisch: Da gab es die Schlachthaus-Ekelinstallation von Jörg Knöfel, das Schlachthausbild als durchgängiges fotografisches Genre, die Piß-Blut-Wichs-Bilder von Via Lewandowsky oder die Faulfleisch-Performances der Gruppe der Autoperforationsartisten, mit rituellem Broilerschlachten an der eignen Hand, Blutbadwaten, Fleischgesichtsmasken und Selbstankreissegungen. Unter dem Druck der Verhältnisse hatte man nicht nur härtere künstlerische Maßnahmen ergriffen als bei uns, sondern sich - weniger metaphorisch als konkret - abgearbeitet am permanenten staatlichen Zugriff auf die Individuen. Vaterland (Stasi, Vopos, Volksarmee) und Muttermund (Geborgenheitskult, „unsere DDR“, „Sie werden plaziert“): Nachrichten vom sozialistischen Körper.

Für die DDR-Kultur bezeichnend sind auch die multimedialen Kunstwerke als Produkte der Eingeschlossenheit: Je weniger der Blick ins Weite gehen konnte, desot mehr richtete er sich nach innen und aufeinander. All das wird sich ändern und zwar nicht nur wegen des teils gefürchteten, teils begrüßten zukünftigen Markteinflusses - sondern schon allein wegen der Änderung der Verhältnisse, deren Ergebnisse solche Kunstformen waren.

Und während etwa Via Lewandowsky findet, daß die DDR-Kunst mehr Normen unterliegt als die einzelnen Künstler wahrhaben wollen, ist ein anderer schon mit dem überfordert, was sein Land bisher auch hervorgebracht hat und was er hier in Paris sah. Kulturminister Keller gestand der taz hilflos: „Ich komme sehr schwer zurecht, wenn verschiedene Materialien zusammengebracht werden und damit etwas zum Ausdruck gebracht werden soll, wo ich unbedingt eine Brücke brauche, damit ich nicht zu einer Fehlinterpretation komme. Denn diese Art von Kunst ist ja nicht dazu da, daß sich jeder irgendeinen Gedanken machen kann. Der Künstler will ja etwas transportieren, er will ja etwas vermitteln. Ich habe zum Beispiel Schwierigkeiten, wenn ich Zementblöcke und zerrissenes Papier daneben sehe, da ist es nur meine Toleranz und meine Hochachtung vor dem Künstler, wenn ich stehenbleibe und das betrachte und versuche, einen Punkt zu finden. Aber ich gestehe ehrlich, es macht mir unerhörte Schwierigkeiten, mich ohne Hilfe, vielleicht auch ohne Gespräch, mit jemandem, der ebenso wie ich Schwierigkeiten hätte, dem Gegenstand zu nähern.“

Keller hat angeboten - als erste Therapiemaßnahme für sozial-realistische Seh- und Warnehmungsgeschädigte gewissermaßen -, ein solches Festival auch in der DDR zu veranstalten, beispielsweise in den Leipziger Messehallen. Da hätte dieses französische Spektakel der DDR vielleicht doch noch etwas gebracht: die in dieser Form bisher unbekannte Begegnung mit der eigenen Kulturproduktion, und zwar hoffentlich noch bevor sich auch diese dem Westen angleicht. Denn: Das letzte Rind wurde im Schlachthof La Villette am 14. März 1974 geschlachtet, der letzte echte DDR -Broiler wurde dort am 20. Januar feierlich mit dem Hammer erschlagen. Es hat sich ausgeschlachtet.