„Ich bin nur ein Rentner ... ... mehr nicht“

■ Karl-Eduard von Schnitzler, 71, Chef-Propagandist der alten SED, über Novemberrevolution, Parteidisziplin, Journalismus, Einschaltquoten, einen nicht vorhandenen Swimming-Pool und seine persönliche Verantwortung / „Soll ich mich jetzt erschießen oder Kapitalist werden?“

taz: Herr Schnitzler, sind Sie der letzte Mohikaner der alten SED, der noch zu einem Interview bereit ist?

Karl-Eduard von Schnitzler: Ich bin nicht der letzte Mohikaner, sondern ich beweise vor mir und vor anderen, daß alte Leute manchmal sehr lernfähig sind. Von anderen unterscheidet mich, daß ich kein Wendehals bin. Nach 58 Jahren politischer Arbeit kann ich mich nicht so einfach in die Büsche schlagen.

Sie waren Berufspropagandist der SED und haben sich wie kein anderer mit dieser Partei identifiziert. Fühlen Sie sich denn mitverantwortlich für das Desaster?

Es freut mich, daß Sie von Mitverantwortung reden und nicht von Schuld. Jawohl, ich trage ein ganzes Stück Verantwortung mit, für das, was sich in den letzten zehn, zwölf, 15 Jahren fehlentwickelt hat.

Was haben Sie denn persönlich gewußt vom moralischen und politischen Zerfall der SED?

Ich muß Sie enttäuschen. Ich habe nie mit Honecker zu Mittag gegessen, ich bin auch nicht in Wandlitz ein- und ausgegangen, sondern war dort genau zweimal bei Sindermann. Von Korruptionsfällen habe ich nichts auch nur im entferntesten gewußt. Ich habe gewußt, daß hier jenes und dort dieses nicht stimmte.

Konkret?

Ich habe gewußt, daß in der Ökonomie falsche Zahlen veröffentlicht worden sind und daß kritische Berichte aus den Kreissekretariaten und Bezirksleitungen oben nicht beachtet wurden. Vor Ort erfuhr ich dann, daß im Kreis Reichenbach dies nicht in Ordnung war und im Kreise Aue jenes. Bei meinen Kontakten mit führenden Leuten habe ich diese Dinge angesprochen. Zugegeben: Die Kritik kam ein bißchen spät, sie war oft zu leise und sie wurde meist nur im kleinen Kreis geäußert. Die Angst, das große Ganze zu gefährden, und eine, wie ich inzwischen einsehe, falsch verstandene Parteidisziplin haben dabei eine wesentliche Rolle gespielt. Aber wenn man solange in der Arbeiterbewegung ist wie ich und wenn man die Nazizeit in der Illegalität und Verfolgung mitgemacht hat, dann hat die Parteidisziplin eine andere Bedeutung.

„Die Partei, die Partei, die hat immer recht!“

In der Illegalität ist Parteidisziplin absolut notwendig. In der Normalität muß es dann irgendwann möglich sein, daß über einen Parteibeschluß auch diskutiert werden darf. Das ist in der SED durch den zunehmenden Umschlag vom Machtgebrauch zum Machtmißbrauch verhindert worden. Statt dessen ist in der Partei von oben Angst und Schrecken verbreitet worden.

Sie waren trotz allem bereit, dieser Parteidisziplin zu folgen. Was hätten Sie Ihren Zuschauern gesagt, wenn in Leipzig am 9. November geschossen worden wäre?

Ich weiß nicht, ob ich den Zuschauern etwas dazu gesagt hätte oder ob ich mich gedrückt und ein anderes Thema gewählt hätte. Aber ich hätte auf jeden Fall lauter und ernsthafter protestiert.

Sind persönliche Bereicherung und Korruption in der SED -Führung für Sie individuelle Vergehen oder zwangsläufige Folge in einem System mit zentraler Machtanhäufung ohne Kontrolle?

Zunächst muß man abwarten, was von diesen Vorwürfen wirklich bewiesen wird. Ich gehöre nicht zu den Vorverurteilern. Einige unserer Wendehälse haben auf diesem Terrain die 'Bild'-Zeitung schon rechts überholt. Auf jeden Fall sind moralische Anfechtungen, Machtmißbrauch und Korruption nicht systemimmanent für die DDR. Es wundert mich, daß gerade Sie das fragen. Der Flick-Skandal, Coop, Neue Heimat, Barschel - das war doch nicht in der DDR.

Darf man aus Verfehlungen des Kapitalismus automatisch eigene moralische Stärke ableiten?

An diese moralische Stärke des Sozialismus habe ich geglaubt.

Sie wollten es besser machen und nicht nur auf den Sumpf der anderen zeigen.

Völlig richtig.

Sie reden noch immer von „meiner Partei“. Existiert diese Partei überhaupt noch?

Jein. Ich weiß, wie meine Partei einmal ausgesehen hat, und ich wüßte, wie sie aussehen müßte. Dieser entsetzlich deformierte Zustand, den wir jetzt erleben, den betrachte ich in der Tat als ein Interregnum, das durch einen Prozeß der Selbstreinigung überwunden werden muß. Und dazu ist es notwendig, daß alle Personen, die in irgendeiner Weise verwickelt sind, von der Bildfläche verschwinden.

Auch Sie?

Deswegen habe ich den Entschluß gefaßt, den Schwarzen Kanal einzustellen. Mein Gesicht ist inzwischen zu solch einem Reiz-Gesicht geworden, daß ich der notwendigen Erneuerung nur im Wege stehen würde.

Sie pflegten in Ihren journalistischen Beiträgen einen heftigen Ton...

...Vergleichen Sie das mal mit ARD, ZDF oder SAT 1. Da war mein Ton eher der eines Mädchenpensionats.

Also Sie haben über die SPD geschrieben - das hat uns gut gefallen - „Das ist Fleisch von gleichem Fleisch, faules Fleisch, stinkend nach Opportunismus und Verrat. Einzig der Grad der Verwesung ist ein anderer.“ Schön saftig.

Das war 1950. So würde ich das heute nicht mehr schreiben. Ich habe zum Beispiel meine Meinung über Wehner korrigiert, der ohne Zweifel eine starke Figur der Arbeiterbewegung war. Beim Beginn des kalten Krieges war man natürlich in der Wortwahl nicht zimperlich. Das hat uns Herr Adenauer vorgemacht.

Ich bekenne mich zum Haß

nur als Kehrseite der Liebe

In Ihrer Biographie bekennen Sie sich zum Haß gegen den Feind.

Das verfälschen Sie. Da steht drin, daß ich mich zur Liebe des Menschen bekenne. Und zum Frieden. Und dann frage ich, ob man sich zum Frieden bekennen kann, ohne die Feinde des Friedens zu hassen. Ich bekenne mich zum Haß nur als Kehrseite der Liebe. Das ist eine dialektische Einheit.

Uns interessieren Ihre Gefühle. Wie geht es Ihnen, wenn sie hören, daß es nur noch Opfer gibt: Frau Stoph sagt in 'Bild‘ („Exklusiv“), daß ihr Mann ein Opfer Honeckers war, Hermann hat von nichts gewußt, der Umweltminister war nur eine machtlose Marionette. Lauter Opfer und oben ein paar Gangster: Honecker, Mittag, Schalck und auf der ideologischen Seite Schnitzler.

Also gegen Schalck ist noch gar nichts bewiesen, und auf der ideologischen Seite sind Hager und Hermann genauso verantwortlich.

Aber die wollen nichts mehr davon wissen.

Das ist deren Brot. Jeder ist so mutig und feige, wie er nun mal ist.

Läßt Sie das kalt?

Das bringt mich hoch. Das empört mich. Ich bin über viele Dinge empört. Über den geschaffenen Zustand, an dem ich wenn auch gutgläubig und unwissend - Mitverantwortung trage. Und über das Verhalten vieler einzelner Personen. Da war einer zwölf Jahre Präsident des obersten Gerichts der DDR und jetzt leitet er den Untersuchungsausschuß der Volkskammer. Ersparen Sie mir jeden weiteren Kommentar.

Sie insistieren zu Recht auf Beweisen. Trotzdem: Zweifeln Sie noch am moralischen und politischen Bankrott von Staat und Partei?

Ich sehe einen fürchterlichen und schuldhaften Tiefststand des Sozialismus. Das ist aber kein Bankrott, denn dann wäre alles zu Ende. Dann könnte ich mich erschießen oder Kapitalist werden. Ich glaube nach wie vor an den Sozialismus. Er ist machbar, notwendig und einzige Alternative zum realen Kapitalismus. Und jetzt ist der erste Versuch auf deutschem Boden gescheitert.

Und wie geht es jetzt weiter?

Ich weiß es nicht. Diese Frage dürfen Sie einem alten Rentner wie mir nicht stellen.

Die DDR hat jedenfalls die Schnauze gestrichen voll von ihrem Sozialismus. Da fangen die kleinen Kinder schon an zu schreien, wenn sie nur dieses Wort hören.

Es kommen sehr, sehr schwere Zeiten. Schwerer a'ls sich das viele Noch-Parteimitglieder vorstellen. Wir werden die Wahlen verlieren, und zwar schlimmer, als sich das alle ausmalen. Die Zeit in der Opposition wird kommen. Aber Kommunisten haben schwere Zeiten schon oft erlebt, und sie haben nicht aufgegeben. Historischen Optimismus nenne ich das. Aber wir brauchen Ursachenforschung.

Welches sind für Sie die wichtigsten Ursachen des Desasters?

Sie liegen darin, daß keiner allein im Besitz der Wahrheit sein kann und im Besitz der Macht sein darf. Nur ein Beispiel: Wo nimmt ein Staat das Recht her, auf Geheiß einer Partei aus kleinen Christen kleine Kommunisten zu machen? Das mußte mit einer Bauchlandung enden.

Gerade Sie haben doch am eindimensionalen Denken mitgestrickt?

Aus meinen historischen Erfahrungen habe ich dabei zunächst mitgemacht.

Sie haben sehr häufig von der Wahrheit geredet.

Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich lernfähig bin.

In Ihrem Buch zitieren Sie Becher: „Die Macht ist euch gegeben, daß ihr sie nie, nie aus den Händen gebt.“

Damit meint Becher nicht die Partei, sondern die Arbeiterklasse.

War es nicht dasselbe in der DDR?

Ja, und genau das ist die Hauptursache der schlimmen Niederlage.

Gab es für Sie einen Zeitpunkt, an dem eine Korrektur noch möglich gewesen wäre.

Vielleicht mit einer Palast-Revolution, als Honecker in Bonn war. Eine solche Korrektur ist uns aber vom Westen lange sehr schwer gemacht worden. Jede Art von Bedrohung von außen führt dazu, daß man innen stärker zusammenrückt. Es fällt mir schwer, exakt anzugeben, ab wann der Machtmißbrauch offensichtlich wurde. Auf jeden Fall war nicht 40 Jahre lange alles scheiße. Vieles ist hier erstmalig und einmalig auf deutschem Boden geschaffen worden. Aber wir haben die Stärke des Kapitalismus unterschätzt, seine Reserven und Regulative. Der sterbende Kapitalismus, von dem Varga sprach...

...und auch Schnitzler jede Woche im Schwarzen Kanal.

Dazu bekenne ich mich. Doch ich will Ihnen noch etwas zur Ursachenforschung sagen: Ich halte demokratischen Zentralismus nach wie vor für notwendig. Aber die Frage, wieviel Zentralismus und wieviel Demokratie, muß neu beantwortet werden. Außerdem ist mißachtet worden, daß demokratischer Zentralismus nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben Gültigkeit hat. In einem schleichenden Prozeß ist dies immer mehr mißachtet worden. Einer der übelsten Vollstrecker dieser Zersetzung war Hermann, der schon kurz nach Honeckers Wahl angekündigt hat, die Aktuelle Kamera müsse um 19.30 Uhr das werden, was das 'Neue Deutschland‘ am Morgen ist. Man faßt sich an den Kopf.

Gibt es für Sie Anlaß, sich bei Ihren Zuschauern zu entschuldigen?

Ich habe mich dafür zu entschuldigen, daß ich innerhalb dringend notwendiger Sendungen Dinge verteidigt habe, die nicht verteidigungswert waren.

Lüge für die große Sache?

Keine Lüge, ich habe nur nicht den Mund aufgemacht.

Sie haben bewußt Dinge verschwiegen.

Innenpolitik war nicht mein Brot. Ich war Außenpolitiker und hatte mich mit dem Imperialismus auseinanderzusetzen.

Sie haben die DDR jedes Mal rosarot angestrichen und die BRD als ein Arbeitslosenlager dargestellt mit einem kleinen Rest an Militaristen, Drogensüchtigen und Sozialhilfeempfängern.

Der Begriff der Zwei-Drittel-Gesellschaft stammt nicht von mir. Im übrigen war mein Kanal nicht immer derselbe. Vor 30 Jahren bei seiner Gründung dominierte im Westen ein haßvoller, vernichtender Vereinnahmungswille. Zuletzt, im Nuklearzeitalter, habe ich auf der KSZ-Journalisten -Konferenz in Jablona dafür plädiert, die ideologische Auseinandersetzung in einem anderen Ton zu führen. Das gehört auch zu mir.

Woher nehmen Sie denn heute angesichts des Zerfalls des gesamten alten sozialistischen Lagers Ihre Hoffnung?

Soll ich kapitulieren? Wir müssen von vorne anfangen.

Wer ist in der DDR noch bereit, mit Herrn Schnitzler zusammen diesen Weg zu beschreiten?

Stilisieren Sie mich doch nicht zu einen neuen Führer.

Machen Sie sich doch nicht so klein.

Ich bin nur ein Rentner, mehr nicht.

Sie sind eine Leitfigur der alten SED.

Deshalb halte ich es auch für meine Pflicht, mich zu äußern - selbst in Ihrem Medium.

Wie interpretiert der Marxist die Ereignisse vom November?

Es war keine Revolution, weil es kein Übergang der Macht von einer Klasse auf eine andere war. Es war eine Explosion, und zwar eine berechtigte, in die sich dann sehr schnell sehr unberechtigte Kräfte eingeschmuggelt haben. Der berechtigte Zorn hat sich entladen. Dann folgten Enthüllungskampagnen, von denen ich nicht mal die Hälfte glaube. Auch über mich sind unglaubliche Dinge behauptet worden. Sie befinden sich hier nämlich in einem Prunkpalast und nicht in einem Einfamilienhaus. Da draußen auf der Wiese soll der Swimming-Pool sein. Mein Ferienhaus in Mallorca kann ich Ihnen leider nicht zeigen. Lüge, Lüge, Lüge.

Nachdem die Führungsriege fast komplett im Knast sitzt, haben Sie keine Angst, daß auch an Ihrem Einfamilienhaus jemand anklopft?

Ich habe ein absolut gutes Gewissen, nur ideologisch -politisch ein schlechtes.

Über Biermann

rede ich mit Ihnen nicht

In der neuen 'Titanic‘ schreiben Sie, die deutsche Einheit wird kommen.

Das habe ich nie bestritten. Die Frage ist nur, wie diese Einheit aussehen soll. Wie die BRD? Nee. So wie die DDR? Ganz gewiß nicht. Wir sollten uns lieber die Köpfe darüber zerbrechen, wie wir wirklich koexistieren können.

Auf den Demonstrationen in Leipzig steht die Einheit weiter auf der Tagesordnung.

Die Losungen dort haben sich ständig verändert. Offenbar haben sich unter die berechtigt Empörten und Erneuerer alle möglichen Kräfte eingeschlichen.

Würden Sie sich trauen mitzudemonstrieren?

Im Moment kann ich nicht mal das Haus verlassen, in meine Kaufhalle gehen oder zum Tanken.

Warum nicht?

Ich werde beschimpft, es wird geflucht. Und wenn ein Scharfmacher dazukommt, dann kommt es zur Gewalt.

Können Sie diese Reaktionen verstehen?

Ich kann Zorn, Wut und die Empörung verstehen. Sie sind aber nicht größer als meine eigenen Gefühle.

Haben Sie den Biermann-Auftritt in Leipzig gesehen?

Natürlich. Aber das ist kein Thema für mich.

Biermann ist Kommunist wie Sie.

Das weise ich ganz energisch zurück.

Sicher nicht wie Sie, aber er ist Kommunist.

Das soll er für sich reklamieren, meinetwegen.

Warum bestreiten Sie, daß Biermann Kommunist ist?

Ich werde mich mit Ihnen nicht über Biermann unterhalten.

Nehmen wir Robert Havemann.

Havemann sind sehr viele Brücken gebaut worden. Aber Sie fragen mich lauter Dinge, über die ich wirklich nicht Bescheid weiß.

Glauben Sie nicht, daß die DDR solche Leute gebraucht hätte?

Das ist richtig. Heute sehe ich das anders. Was nicht heißt, daß die Dinge unter den damaligen Umständen falsch gesehen worden sind. Es gab eine Bedrohung der DDR und es mußte hart reagiert werden.

Wer will unterscheiden zwischen Bedrohung und Machtmißbrauch?

Sie haben Adenauer nicht erlebt, als er sagte: „Ich wünsche mir, daß die Bundeswehr mit klingendem Spiel durchs Brandenburger Tor marschiert.“ Solche Bedrohungen haben natürlich jede Selbstreinigung der Partei unmöglich gemacht.

Gab es jemals Ansätze für eine solche „Selbstreinigung“?

Ende der 70er Jahre haben sich viele sehr kritisch geäußert, die unbelehrbaren Dogmatiker verloren an Terrain. Doch am Ende standen leider nur unverbesserliche Hardliner und Feiglinge in der Parteiführung. Was etwa Krenz zur Staatssicherheit am runden Tisch gesagt hat: Alles sei an ihm vorbeigegangen. Entweder lügt er oder er hätte sich das nicht gefallen lassen dürfen.

Bleiben Sie Mitglied der SED?

Das hängt von der Entwicklung der Partei ab. Wenn es eine Partei der Wendehälse wird, werden sie mich vielleicht rauswerfen. Dann bin ich diszipliniert genug und gehe.

Sie haben 46 Jahre Journalismus gemacht. Wie würden Sie dessen Rolle heute sehen?

Heute würde ich mehr denn je an die Spitze aller journalistischen

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Prioritäten die Wahrheit setzen. Zweitens: Verzicht auf Enthüllungsjournalismus, also eine eigene Gewalt im Staat sein zu wollen. Profession und Konfession müssen übereinstimmen. Und man darf nicht alle in einen Topf werfen. Das war ja der Anfang des Schwarzen Kanals: alle in einen Sack - und draufhaun.

Sie haben differenziert?

Ich habe in den letzten Jahren viel mehr differenziert, als es in Ihren elektronischen Medien je stattgefunden hat. Beispiel Strauß: Dem weine ich beinahe eine Träne nach, weil er realistische Züge hatte. Wenn Strauß von einer Moskaureise zurückkam und sagte: a) Die Russen wollen keinen Krieg, und b) Wir müssen abrüsten - dann habe ich das gebracht, ganz klar.

Erste Aufgabe: Wahrheit. Wer kennt die?

Sie wiederholen sich. Ich sagte, keiner ist im Besitz der Wahrheit und keiner darf im alleinigen Besitz der Macht sein - den Satz nehmen Sie mal mit. Im übrigen habe ich vor drei Jahren schon kühne Dinge geschrieben, die ich mir nur wegen meines Alters leisten konnte. Bei einem Jüngeren wäre mein Buch nicht erschienen, und der Autor wäre von der Bildfläche verschwunden, beruflich jedenfalls.

Schnitzler der Aufrührer?

Das nicht, aber sehr kritisch zur offiziellen Parteiauffassung von der Rolle des Journalismus, in vollem Widerspruch. Der Vorwurf war: Du machst unsere Informationspolitik schlecht. Ich sagte, nicht ich, sondern ihr macht sie schlecht.

Diese Kritik kam in Ihrer Sendung nicht vor.

Durch die Praxis schon. Ich habe versachlicht und versucht, eine andere Sprache zu wählen, verständlich zu sprechen, deswegen hatte ich so gute Einschaltquoten. Mit dem letzten Kanal bin ich mit 14 Prozent ausgeschieden.

Glauben Sie ernsthaft, daß Ihre Botschaft noch gefragt war?

Also auf Herrn Höfers drei Prozent bin ich nie gesackt.

Es gibt einen eklatanten Widerspruch zwischen der angegebenen Einschaltquote und Ihrem Beliebtheitsgrad...

...Natürlich, der war gegen Null.

Wir haben in der DDR noch keinen Schnitzler-Fan getroffen.

Sie sind in der Minderheit. Aber ich weiß, daß viele meine Stimme vermissen.

Hat sich früher mal jemand getraut, Ihnen die Meinung zu sagen?

Au, au, mir ist sehr viel gesagt worden, und das habe ich auch weitergegeben, wenn auch nicht mit dem notwenigen Nachdruck.

In Ihren Sendungen haben Sie oft sehr richtige Kritik am Westen geübt, um anschließend die Verhältnisse in der DDR hübsch blauäugig zu schildern. Damit haben Sie der Kritik jede Wirkung genommen.

Das ist nachträglich denkbar.

Die Leute hier konnten doch Ihre Schilderung der DDR mit den eigenen Lebensbedingungen vergleichen. Das paßte nicht zusammen.

So kommen wir nicht weiter. Ich will Ihnen etwas anderes sagen: Warum aus meinem Gesicht ein Reiz-Gesicht geworden ist. Einmal ist da mein Ton, den ich nach wie vor verteidige. Ich bin kein Zyniker, denn der glaubt nicht, was er sagt. Ironie, Satire, Polemik, das habe ich versucht in den Journalismus wieder einzuführen. Wenn Sie sich den alten Marx vornehmen, Lenin und Heinrich Heine - die stecken voller Polemik.

Ihre Ironie scheint dagegen nicht angekommen zu sein.

Viel schwerwiegender war, daß es uns nicht gelungen ist, beim jungen Bürger sozialistischen Patriotismus zu wecken. Für zuviele gab es nur ein armes und ein reiches Deutschland, und sie wollten ins reiche Deutschland. So einfach ist das. Und weil ich mich mit dem Kapitalismus im reichen Deutschland auseinandergesetzt habe, fühlten sich viele getroffen, die gar nicht gemeint waren. Deshalb wird meine Person abgelehnt.

Woche für Woche haben Sie die BRD durch den Wolf gedreht. Wie oft haben Sie das Land besucht?

Ich war nach dem Mauerbau '61 zweimal in der BRD. Seit '45 war ich kein einziges Mal am Kurfürstendamm - und habe dort auch kein Klopapier gekauft, wie im 'Spiegel‘ stand.

Allzuviel Recherche ist das nicht. Wollten Sie nie das Lebensgefühl in der BRD kennenlernen, mit Menschen reden?

Nun werfen Sie mir vor, daß ich zuwenig drüben war, andere werfen mir fälschlicherweise vor, daß ich zuviel drüben war. Interessant.

Dann haben Sie Ihre Informationen nur aus den „Wildwestmedien“.

Ich habe politisches Wissen, was manch anderer nicht hat, historisches Wissen. Ich weiß, was Imperialismus ist, warum ich seit 1932 in der Arbeiterbewegung bin. Und ich sage Ihnen, daß ich genügend Kontakte mit Menschen habe und daß ich Ihre Medien sehr genau studiere. Nicht nur vorne den Klatsch, sondern die Wirtschaftsteile: Es gibt ja Kreise, die sich nicht in die Tasche lügen können. Ich bin über meinen Arbeitsgegenstand bestens informiert.

Scheiße räumt man weg, man tritt sie nicht breit

Über die Westmedien läßt sich vieles sagen, aber ein bißchen kritische Kontrolle hätte der DDR nicht geschadet.

Jetzt kriegen wir's, jetzt kriegen wir's.

Paßt Ihnen das nicht?

Drastisch gesagt: Scheiße räumt man weg, man tritt sie nicht breit.

Erst mal muß auf die Scheiße gezeigt werden.

Die riecht man und sieht man.

Die SED hat die Scheiße zugedeckt.

Das ist eine Frage demokratischer Kontrolle, das war ein großer Mangel.

Und die Medien hier waren ruhig.

Nicht immer. In der zweiten Sendung von elf 99, zu deren Vätern ich zähle, wurde ich gefragt, was ich von der Massenflucht halte. Und ich habe gesagt - ich war ja der allererste, der den Mund aufgemacht hat - wenn ich einen ehemaligen DDR-Arbeiter in Göttingen sagen höre, ich bin jetzt endlich da, wo ich mir meine Arbeit selber suchen kann, dann ist meine Reaktion ersten: Du blöder Hund, zweitens: Du armes Schwein, drittens: Was haben wir falsch gemacht, denn er kommt ja von uns.

O-Ton Schnitzler: „Wer eine menschliche Gesellschaft will, braucht eine gut informierte Bevölkerung.“ Wird jetzt langsam angefangen...

...Immer noch nicht. Unter der SED-Führung nicht und heute auch nicht.

Geht Ihnen die Presse plötzlich nicht weit genug?

Es herrscht ein völliger Mangel an Differenzierung und Seriosität: Unterstellungen, Dementis. Vorverurteilungen, die kotzen mich an. Wenn ich das jetzt sehe in elf 99 und der Aktuellen Kamera...

Die DDR-Sendungen sind doch geradezu eine Wohltat geworden.

Ich würde nicht sagen Wohltat, aber interessanter auf jeden Fall. Früher waren die Nachrichten unansehbar. Diese Hofberichte, alles war vorformuliert, die primitive Sprache unerträglich.

Unsere letzte Frage: Können Sie sich vorstellen, in einem neuen Deutschland unter einem Kanzler Helmut Kohl zu leben?

Das ist hypothetisch. Es steht für mich nicht auf der Tagesordnung, aber möglich ist alles. Nur: Das wäre für mich kein Grund zu emigrieren.

Wo wollen Sie auch hingehen?

Das kommt noch hinzu.

Interview: Manfred Kriener

und Norbert Thomma