Falsche Träume

365 Tage nach dem Erdrutsch von Berlin  ■ K O M M E N T A R

Eine Glatze macht Karriere. Als die SPD, mangels anderer Kandidaten, Walter Momper ins Rennen schickte, setzten sich auch eingefleischte Sozialdemokraten erst einmal hin, seufzten - und stellten sich auf weitere vier Jahre Diepgen und Co. ein. Doch dann marschierte Bernhard Andres mit Eskorte vor die TV-Kameras - und Walter Momper wurde mit „Rot-Grün„-Sprechchören begrüßt. Halb zogen sie ihn, halb sank er hin - und ein Star war geboren. Die Reinkarantion des Willys der guten alten Zeit, meinten gefühlsbetonte Naturen.

Und die es mehr mit der Vernunft hielt, jubelten dennoch. Nicht, weil nun nach fast einem Jahrzehnt der Politik der Herren im Nadelstreif, die Zeit des Betons, der fast militärischen Bekämpfung von „Anti-Berlinern“, des Sumpfes und der Brot- und Spiele-Kultur vorüber war. Nein, auch weil Rot-Grün fast so etwas wie einen neuen „-ismus“, zumindest aber die Strategie für Bonn versprach. Schnell wurde eine ellenlange Wunschliste erstellt - und zwei programmatische Überbegriffe gefunden: ökologischer Stadtumbau und multikulturelle Gesellschaft.

Heute sonnt sich Momper autoritär in unerwarteter Beliebtheit. Seine SenatorInnen dürfen angesichts des Geschenks der Maueröffnung für ihr Krisenmanagement Lorbeeren in Anspruch nehmen - trotz allen Zwistes um Stromtrassen, KiTas, das idiotische Kohl-Museum... - aber keiner jubelt mehr.

Weil man aber nicht jede Woche einmal auf die Mauer steigen kann, könnten schon bald düstere Schatten auf Momper fallen. Denn abgesehen vom persönlichen Starkult ist die selbstgestellte Hausaufgabe nicht erfüllt. Aus der rechnerischen wurde noch keine sichtbare gesellschaftliche Mehrheit. Und dies liegt nicht an den lästigen Zankäpfeln der Koalition, sondern an ihrem Geist. Von dem ist nämlich wenig zu verspüren. Die SPD setzt auf Bürokratie, Buckeln nach Bonn und Sachzwänge. Die AL verliert sich in Fachidiotentum, Technokratie, Oppositionspolitik und basisdemokratischer Widerstandsromantik. Und beim Bürger kommt nichts an.

Besonders beim Thema multikulturelle Gesellschaft: der Haß von Teilen der deutschen BerlinerInnen gegen die ausländischen BerlinerInnen hat Rot-Grün in die Chefsessel gebracht. Doch außer Sonntagsreden folgte nicht viel: Feige zauderte die SPD schon beim überfälligen entscheidenden Hebel, dem kommunalen Ausländerwahlrecht - ein Auge immer auf die Springerzeitungen. Und die AL, ganz im Sinne ihrer Sammelbeckentradition - begreift Ausländerpolitik weitgehend als Flüchtlingspolitik, kümmert sich löblich um Abschiebeschicksale, träumt Öko-Träume - und so gut wie gar nicht um das soziale Großklima der Stadt. Und auf deren Schulhöfen und Straßen wachsen Egoismus und Fremdenhaß heran. Dabei wäre multikulturell nun erst recht angesagt, nachdem sich durch die offenen Grenzen nun ganz neue Stoßrichtungen für Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Besitzneid, Existenzangst und Frust aufgetan haben. Die lebensfreundliche, soziale Metropole der Minderheiten, Gruppen, Kulturen - des Nebeneinanderhers und derVerschiedenheiten - kann nicht durch Sonntagsreden und mit Hilfe kleinteiliger Projektefinanzierung wie bisher entstehen. Wenn nicht eine große Koalition der Frustrierten und Neidischen den Senat dereinst aus den Chefsesseln kippen soll, muß diese Koalition schleunigst mit Werten und Wohnungen, mit Psychologie und demonstrativ praktizierter neuer Toleranz aus ihren Planungsstuben herauskommen. Und erst dann ihre Träume von der europäischen Metropole träumen, die im Moment noch vielen Bürgern in Ost und West „echt am ... vorbei“ gehen.

Thomas Kuppinger