AKW Greifswald rumpelt weiter

■ Der Reaktorinvalide bleibt trotz gravierender Sicherheitsmängel vorläufig weiter in Betrieb / Schärfere Überwachung als Reaktion auf die Enthüllungen

Berlin (taz) - Trotz des alarmierenden Zustandes der Anlage werden vier von fünf Blöcken des DDR-Atomkraftwerkes Greifswald zunächst weiter in Betrieb bleiben. Wie im Bonner Umweltministerium gestern zu erfahren war, werden die Reaktoren jetzt schärfer überwacht, um bei weiteren Zwischenfällen schneller reagieren zu können. Bis zur Entscheidung über eine Stillegung oder „Ertüchtigung“ des AKWs durch sicherheitstechnische Nachrüstungen werden vermutlich noch einige Wochen, bis zur Umsetzung der notwendigen Nachrüstungen noch Jahre vergehen.

Die grünen Parteien aus Ost und West und die Berliner AL forderten gestern das sofortige Abschalten des Atomkraftwerks, DDR-Umweltgruppen haben für nächste Woche eine Besichtigung durch unabhängige Experten durchgesetzt.

Unterdessen hat Wolfgang Brune, Direktor der Atomkombinats, die Möglichkeit einer „Kernexplosion“ wie in Tschernobyl für Greifswald ausgeschlossen, da dies ein „grundlegend anderer Reaktortyp“ sei. Im 'Neuen Deutschland‘ wies Brune die 'Spiegel'-Enthüllungen über den katastrophalen Betrieb zurück, räumte aber gleichzeitig erhebliche Schwachpunkte der Anlage ein. Die vielen Notabschaltungen in Greifswald etwa erklärte er damit, daß die Sicherheitsanlagen zur Verhinderung einer Kernschmelze „nicht so umfangreich“ seien, weshalb man die Reaktoren lieber abschalte, um nichts zu riskieren. Als „völlig falsch“ bezeichnete Brune die Behauptung, daß „wir ständig an der Katastrophe entlangschlittern“.

Ob eine Nachrüstung für die Reaktorinvaliden in Greifswald überhaupt noch in Frage kommt, wird auch im Bonner Umweltministerium stark bezweifelt. Ein Mitglied der 15köpfigen Sachverständigengruppe, die den Reaktor vergangene Woche inspiziert hat, sprach gestern von notwendigen Kosten in Milliardenhöhe. Da die vier Blöcke zusammen schon 50 Betriebsjahre auf dem Buckel hätten, sei auch aus ökonomischer Sicht ein „Ertüchtigungsprogramm“ fraglich.

Die Sachverständigen sehen Greifswald als eine Anlage „im Denken der 60er Jahre“ und einer entsprechenden Sicherheitstechnik. Klar sei auf beiden Seiten (West und Ost), daß die Anlage in diesem Zustand nicht weiterbetrieben werden könne. Jetzt gehe es um die Frage Stillegung oder Nachrüstung.

Als KO-Punkte der Anlage identifizierten die bundesdeutschen Experten vor allem das versprödete und ermüdete Material. Die Untersuchung des Reaktordruckbehälters, aber auch der Hauptkühlmittel -Leitungen, der Dampferzeuger und Kühlmittelpumpen müsse zeigen, ob ein Weiterbetrieb noch zu verantworten sei. Wenn man zu dem Ergebnis komme, daß das gesamte Reaktorherz ausgetauscht werden müsse, dann sei „ein Neubau sicherlich sinnvoller“. Bei den Untersuchungen soll vor allem geprüft werden, wie weit die sogenannten „Heilungsprozesse“ an den rostenden und versprödeten Stahldruckbehältern Erfolg hatten. Bei diesen Heilungen, wurde versucht, den Reaktorstahl durch Ausglühen wieder geschmeidiger zu machen.

Entgegen den Äußerungen von Kombinatsdirektor Brune sehen offenbar die Ingenieure und Arbeiter des Kombinats den Weiterbetrieb sehr kritisch. Bei den Gesprächen der Bonner Reaktorexperten in Greifswald wurde, wie das Umweltministerium bestätigte, gerade von Werkstoffkundlern des DDR-Atomkombinats massive Kritik am Zustand der Anlage geübt. Alle Themen, über die der 'Spiegel‘ berichtet habe, seien dabei zur Sprache gekommen. „Wir haben keineswegs den Eindurck, daß da die Jalousien runtergehen“, hieß es dazu in Bonn.

Die Frage, ob in Greifswald bei den Störfällen der letzten Jahre eine Kernschmelze bevorstand, wird in der Bonner Sachverständigengruppe zwar zurückhaltend beurteilt, aber auch nicht bestritten. Die wenig beruhigende Auskunft: Nach dem schweren Reaktorbrand von 1976 hätten bis zum Eintritt der Kernschmelze „noch einige Stunden Zeit“ bestanden.

Der Brandschutz und der Schutz gegen „Überflutungsereignisse“ seien auch gegenwärtig noch gravierende Schwachpunkte der Anlage. Durch die räumliche Komprimierung der Systemtechnik „verabschiedet sich bei einem Brand oder einer Überflutung gleich die gesamte Sicherheitstechnik“. Auch dies sei ein KO-Punkt der Anlage.

Manfred Kriener