Dicurentum Serum

■ In Saarbrücken fand das Max-Ophüls-Festival des deutschsprachigen Nachwuchsfilms statt

Thierry Chervel

Wer einen Film machen, also zeigen will, was er Lust hat zu sehen, dem verschlüsselt es sich gleich. Denn plötzlich muß „es“ - das Leben oder die Welt, die Geschichte, die incommunicabilite oder die Bilder oder wie immer man das nennen will, was er Lust hat zu sehen und zu zeigen - in technischen Kategorien denken. Plötzlich und immer wieder verstörend drängen sich zwischen Intention und Darstellung die Fragen der Kadrierung, der Schauspielerführung, des Tons, der Dramaturgie, der Schatten und des Lichts, der Anschlüsse, sicherlich auch der Finanzierung, aber das ist zweitrangig, und plötzlich ist „es“ nicht zu mehr fassen, es sträubt, entzieht, verschließt sich. So scheitern die meisten Filme, Nachwuchsfilme natürlich erst recht.

Einmal im Jahr, gegen Ende Januar, gewährt das Saarbrücker Max-Ophüls-Festival, das dem deutschsprachigen Nachwuchskino gewidmet ist, tiefbetrübliche Einblicke in die Tragik dieses Scheiterns. Tragisch ist: Sie scheitern individuell - nur darin sind sie wie das Leben, an das sie erinnern wollen. Manche kommen tatsächlich mit der Technik nicht zurande, manche finden den plot nicht, der trägt und treibt, manche wissen mit den Schauspielern nichts anzufangen, manche flüchten sich gleich zum Fernsehen, in dessen Versatzstückkiste sie sich bedienen, um mit bedenklicher Versiertheit die Probleme zu kaschieren, an denen sich die anderen wenigstens offen wundreiben. Manche scheitern halb und gelingen halb, das ist ja schon was.

Selten aber sind die Filme, in denen man sich denkt: Das ist einfach Kino. Einfachheit ist eine wichtige Forderung, besonders an Nachwuchsfilme, in ihr beruht das, was man das Dicurentum Serum nennen könnte, das, was man Lust hat zu sehen, der Wald, den man vor lauter Bäumen nicht aus den Augen verlieren darf, das, was man nicht vergessen darf und worauf man erstmal kommen muß. Das Dicurentum Serum hat aus manchen Nachwuchsfilmen ewige Klassiker gamcht. Denn es ist einfach, wie die Reisenden aus Stranger than Paradise vor dem Michigan-See stehen, der gar nicht zu sehen ist, und sagen: „schön“, wie der Sterbende in Ariel auf den Knopf drückt und das Verdeck des Cabrios endlich zugeht, wie Belmondo in Außer Atem fragt, ob er gleich ins Waschbecken pinkeln darf. Das Schöne, Befreiende und Subversive am Dicurentum Serum, dem alten Vexierrätsel, ist allerdings nicht allein die Simplizität, in die es sich auflöst, sondern auch das Glück der Evidenz, das sich mit der Entschlüsselung des scheinbar Schwierigen verbindet. So einfach ist das: Die Kuh rennt um‘ See rum.

Wie ein Glockenschlegel pendelt das Euter zwischen den Hinterläufen. Der Anblick ist rührend und grotesk zugleich. Die Kuh rennt und springt und legt alles in allem ein Temperament an den Tag, das man bei diesem als schwerblütig geltenden Tier kaum vermutet hätte. Detlev Buck hat sein Schwarzbuntmärchen an einem Frühjahrswochenende gedreht. Nach sechs Monaten Stallhaltung werden die Kühe wieder auf die Weide gelassen. Zuerst filmt Buck die Kühe im Stall, von sehr nahem, das Fell, die Beine, die Augen. Dann geht er etwas zurück, zeigt die Fesselung, die Enge im Stall. Dann die rasende Euphorie der Stallöffnung. Buck läuft den Kühen hinterher, bleibt nahe dran, die Kamera hält er in Höhe der Hinterbeine. Aber auch die Weide hat eine Grenze: den elektrisch geladenen Zaun. Im letzten Bild des 11-Minuten -Films steht die Kuh vorm Meer. Sie ist nicht um den See rumgerannt, sondern in die Freiheit.

Eine ähnliche Geschichte erzählt Detlev Bucks erster längerer Film, der 60minütige Hopnick. Hopnick ist Grenzbeamter an der Westberliner Heerstraße - der Film spielt noch vor den Ereignissen. Die Heerstraße ist für den Transit nach Hamburg gesperrt und nurmehr für Reisende geöffnet, die in die DDR wollen. Viel los ist an der Heerstraße also nicht. Die wenigen Reisenden, die vorbeikommen, muß Hopnick abweisen. Sie haben noch nicht kapiert, daß sie über den Grenzübergang Tegeler Weg fahren müssen, um nach Hamburg zu kommen. Für Hopnick, der von Buck selbst gespielt wird, ist das ein eher frustrierender Job.

Hopnick und Schwarzbuntmärchen zeigen, daß es auf die Beherrschung der Technik gar nicht ankommt, solange der Umgang mit ihr der Lust dient, nicht der Lust an der Verfügung über die Mittel allerdings, sondern der am Sehen. Hopnick besteht im wesentlichen aus drei Szenen, gewissermaßen drei Realzeitausschnitten aus Hopnicks Existenz: die Grenze, die Schlägerei, die Hopnick abends auf einer Fete anzettelt und verliert, der Gang zum Frseur am nächsten Morgen, wo ihn die Frau bedient, die ihm bei der Fete schon aufgefallen war. Den drei Szenen entsprechen drei technische Verfahren: die lange Einstellung im Grenzhäuschen, Zwischenschnitte und Zeitlupe in der Schlägerei und ein differenzierteres Spiel von Schnitt und Gegenschnitt, subjektiver Kamera, Spiegelblicken und Detailaufnahmen vom Haareschneiden im Friseursalon. Die lange Einstellung dauert vielleicht fünf oder zehn Minuten. Die Kamera bewegt sich nicht von der Stelle, auch die Beamten sitzen fest. Hopnick und sein Kollege sind über eine Autozeitschrift gebeugt. Sie diskutieren die Vorteile des G -Laders gegenüber dem Turbolader. Wie kommt es, daß man lachen kann, ohne den Eindruck zu haben, die beiden würden für dies Lachen geopfert oder denunziert, daß man gebannt ist, obwohl nichts passiert, daß das Spektakel der Langeweile und Banalität in keiner Sekunde langweilig oder banal ist?

Bucks Film stützt die Vermutung, daß das banale Leben eines Grenzbeamten viel spannender ist als das aufregende Leben von Werbeleuten, Innenarchitekten und Kunstmalerinnen. Diese stellen das typische - und typisierte - Personal der traurigsten, bedauerlicherweise stets noch quicklebendigen Gattung des deutschsprachigen Kinos: der Beziehungs- und Männerkomödien. Drei Filme des Ophüls-Festivals schlagen in diese Gattung: Monika Schmid Samsons Blauer Mond, Beat Lottaz‘ Stille Betrüger und Gabriel Baryllis Butterbrot. Diese Filme, psychologische Traktate von Hobbytherapeuten für Hobbybetroffene, spekulieren in erster Linie auf das feixende Einverständnis der Zuschauer damit, daß ihre Sehnsucht, Trauer, Langeweile, Angst, Hoffnung, Lust nun nicht mehr Liebe, sondern nur noch Beziehungskiste genannt wird. Liebe wird weggeredet. Das, was sich bei Hopkin in ein paar Blicken und Gesten zwischen dem Beamten und der Friseurin (Buck hat Sophie Rois fürs Kino entdeckt) von allein zeigt: erotische Spannung, ist in diesen Filmen der ewige heiße Brei und blinde Fleck. Wo es doch mal eine erotische oder Liebesszene gibt, ist sie obszön, weil grobschlächtig funktionalisiert, selbst Versatzstück im haltlos klappernden Komödiendiskurs.

Die beiden dilettantischeren der drei Filme halten sich an kleinen Zitaten fest. Der Anmachertyp aus Stille Betrüger, irgendwie ein Intellektueller, zieht in der Buchhandlung einmal Kiergegaards Entweder - Oder, also das Tagebuch des Verführers aus dem Regal - ohnmächtige, unverschämte Prätention! Der schmetterlingsflügelbunte, ach -so-verrückte Blaue Mond kommt auch nicht ohne Autoritäten aus. Der Film arbeitet mit Inserts. Darauf steht: „Fellini dreht jetzt einen Film, da darf jeder machen, was er will“ - eine Moral, so soßig und süßlich wie die Musik, in die das Stückwerk getunkt ist. Der Witz von Butterbrot besteht darin, daß ein von seiner Frau verlassener Heinz Hoenig in seiner Verzweiflung Sätze sagen darf wie: „Frauen denken nicht, sie tarnen sich mit denkähnlichen Äußerungen.“ Die leitende Erkenntnis des Films: Männer können prima Kumpels sein.

Liebe, Gewalt, Schönheit und Tod sind tabu. Darum geht man ins Kino. Manche Filme trauen sich immerhin. Andreas Grubers Schalom, General, der Preisträgerfilm, konfrontiert in einem Sterbeheim einen friedlichen, aber etwas schlaffen Zivildienstler mit einem gelähmten, aber militaristischen Ex -General. Am Ende ist der General ein bißchen friedlicher, und der Zivildienstler hat Selbstdisziplin gelernt. Die Konstellation bleibt schematisch, darum versöhnlerisch. Auch scheut sich der Film nicht, aus der Tatsache, daß man im Alter wieder wird wie ein Kind, so etwas wie Hoffnung schöpfen zu wollen. Susanne Zankes Skorpionfrau schildert die Liebe einer 45jährigen Richterin zu einem 20jährigen Studenten. Auch dieser Film ist ein bißchen lehrhaft. Als Richterin verhandelt Angelica Domröse den Fall einer 50jährigen, die einen 15jährigen verführt und niedergeschlagen haben soll. Natürlich identifiziert sie sich mit der Delinquentin und macht sich dadurch selbst unmöglich. Stellenweise wirkt die Skorpionfrau wie der etwas ungenaue Selbsttrost der Regisseurin. Die Grenzüberschreitung am Anfang geht zu leichthin, der Schluß ist zu gewaltsam. Aber es ist eine Liebesgeschichte, keine Beziehungskiste, und wer einmal gesehen hat, wie Angelica Domröse die Nase kräuselt, wird kaum widerstehen können. Der Film könnte ein ähnlicher Überraschungserfolg werden wie seinerzeit Männer. Der Trend wäre sympathischer. In Michael Schottenbergs Caracas begeht ein von seiner Frau gedemütigter Tankstellenbesitzer einen der schöneren Morde der jüngsten Kinogeschichte. Der Film, der in Cannes schon zu sehen war, hat wunderbar grelle, bunte, scharfe Bilder. Der Schluß ist schlecht. Ein Happy End wäre vonnöten gewesen. Mord muß sich lohnen.

Es könnte sein, daß der Eröffnungsfilm des Festivals, China Lake, auch der schönste war. Gedreht hat ihn der Deutsch-Amerikaner Dieter Weihl in Nevada. Die Geschichte ist extrem simpel. Vater und Sohn leben in einem Wohnwagen am Rande der Wüste. Die Mutter ist lange tot. Nach Jahren kommen Tante und Tochter zu Besuch. Die Geschwister begeben sich auf eine kleine Flucht, verlieben sich ein bißchen ineinander, trauen sich aber nicht recht - eine der zärtlichsten Szenen. Am Ende fahren Tante und Tochter wieder nach Milwaukee.

Der Film erinnert an viele andere Filme. Der Sohn sieht ein bißchen aus wie James Dean und ein bißchen wie Oskar Werner. Die Tochter spitzt den Mund wie John Lurie, die Bilder lassen an Paris, Texas denken, die Musik erinnert an die Musik von Spike Lees Vater, das Paar in der Wüste an Antonionis Zabriskie Point, einmal dringt aus dem väterlichen Fernseher gar ein Godard-Zitat: „Qu'est-ce que ca veut dire, degueulasse?“ Vielleicht hat Weihl nur geklaut. Seltsamerweise stört das in diesem Fall nicht.

Detlev Buck erzählt nach der Projektion von Schwarzbuntmärchen, daß er die Kuh für das Schlußbild festpflocken mußte: Der Anblick des Meers hat ihr Angst gemacht. Wer zeigen will, was er Lust hat zu sehen, muß auch schummeln können.