Temeswar: Revolution und Bürokratengeist

Fünf Wochen nach dem Sieg der Revolution und Ermordung Tausender Demonstranten ist noch keine Ruhe in Temeswar eingekehrt / Die örtliche Front der Nationalen Rettung wird von der Bevölkerung als wenig glaubwürdig angesehen / William Totok, selbst aus Temeswar, traf seine ehemaligen Securitate-Verhörer in Freiheit an  ■  Von William Totok

Die Temeswarer sind stolz auf ihren Sieg. Hier begann am 15./16.Dezember 1989 die rumänische Revolution, durch die das Ceausescu-Regime gestürzt wurde. Ein Sieg, der mit vielen Opfern verbunden war. Noch heute sieht man die Narben der Kämpfe in der Stadt, abgebrannte Kaufhäuser, Einschußlöcher in den Barockgebäuden des Freiheitsplatzes, von Panzerketten aufgewühlter Asphalt vor den glücklicherweise unbeschädigten Jugendstilfassaden der ehemaligen Lloyd-Zeile, dem heutigen Stadtzentrum um den Opernplatz.

Kränze und brennende Kerzen sind überall dort finden, wo Demonstranten durch die Kugeln der Securitate und der Armee getötet wurden, auch vor der riesigen, byzantinischen Kathedrale der Stadt. Noch immer herrschen Trauer und Empörung in der Hauptstadt des Banats, des westlichen Teils Rumäniens, im Dreiländereck mit Ungarn und Jugoslawien gelegen. Und noch immer weiß niemand genau, wieviele Opfer wirklich zu beklagen sind. Empörung und eine spontane Demonstration löste die Bekanntgabe der offiziellen Zahlen vom 19.Januar aus, in denen von nur neunzig Toten ausgegangen wird. Das Komitee der Aufständischen dagegen spricht immer noch von 10.000 Opfern. Andere wiederum gehen von 4.000 Toten aus. Noch in diesen Tagen werden neue Massengräber entdeckt.

Hier, in dieser Stadt, wurde auch das erste Revolutionskomitee gebildet, als in Bukarest noch alles ruhig war. Am 18.Dezember 1989, also vier Tage bevor Ceausescu stürzte, waren diesem Komitee schon viele Menschen beigetreten, die ohne Waffen gegen die um sich schießenden Securitateleute kämpften. Aber schon damals wechselten zahlreiche Ceausescu-Anhänger in atemberaubender Geschwindigkeit die Seiten, zum Beispiel Radu Balan, der Erste Sekretär des Kreisparteikomitees. Noch am 17.Dezember hatte er in einer Telefonkonferenz mit Ceausescu, der damals alle Provinzsekretäre auf seinen Schießbefehl verpflichten wollte, gemeldet: „Wir sind hier mit Genossen Coman (ZK -Verantwortlicher für den Kreis, Anm. d. Red.). Es sind Maßnahmen für die Ausführung Ihres Befehls ergriffen worden.“

Obwohl Radu Balan nach dem Sturz des Diktators von der Armee verhaftet wurde, blieb das Komitee, das sich nun der Front der Nationalen Rettung (FNR) angeschlossen hatte, für die Bevölkerung im Geruch, zu viele Kommunisten in seinen Reihen zu haben. Zwar bildeten sich in Fabriken und Institutionen, in Verwaltungen und Zeitungsredaktionen auch in Temeswar, wie überall im Land, Gruppen mit Anhängern der Front. Diese offene Struktur ermöglichte jedoch jedem, der nicht offensichtlich kompromittiert war, einzutreten. In den ersten Tagen nach der Revolution versuchten diese Gruppen, die alten Leitungen abzusetzen und neue zu installieren.

Doch die Basisgruppen waren bis zum letzten Wochenende, als endlich eine Wahl des Kreiskomitees durch die Basis stattfand, dem nicht gewählten Kreiskomitee der Front, das sich nach der Revolution gebildet hatte, unterstellt. Die an den demokratischen Zentralismus erinnernde Struktur trug nicht dazu bei, bei der Bevölkerung unumschränktes Vertrauen gegenüber der Führung der Front wachsen zu lassen.

So ist es nicht verwunderlich, daß sich in Temeswar der Nationale Trauertag vom 12.Januar in eine spontane antikommunistische Kundgebung verwandelte, die zum Rücktritt des lokalen Komitees der Front führte. Das Militär mußte die Macht übernehmen. Doch die Proteste gegen die nationale wie auch die regionale Führung der Front gingen in Temeswar und im ganzen Land weiter.

Widersprüche

Im Vorzimmer des Vorsitzenden der Front, Lorin Fortuna, eines Hochschullehrers, sorgte noch vor kurzem ein Armeehauptmann für „Disziplin und Ordnung“. Eine StudentInnendelegation, die sich am 9. Januar bei Fortuna über die bürokratischen Maßnahmen gewisser FNR-Mitglieder beschweren möchte, wird vom wachhabenden Hauptmann beschimpft. Er macht die Delegation auf seine Pistole aufmerksam und erklärt mit drohendem Unterton in der Stimme, daß das Vorzimmer des Vorsitzenden kein geeigneter Ort für Interviews und Umfragen sei. Natürlich bestehe Informationsfreiheit, aber die StudentInnen - bei der jungen Generation sind die Frauen genauso aktiv wie die Männer sollten sich „andere Informationsquellen“ suchen. Wo diese zu finden sind, darüber schweigt er sich aus. Fortuna hat offensichtlich allen Grund, nervös zu sein.

In der Stadt ist es unruhig. Die ArbeiterInnen der meisten Fabriken streiken. Die Direktoren der großen Industriebetriebe sind allesamt entlassen. Es bilden sich die ersten freien Gewerkschaften, ebenso eine Reihe von Parteien, die teilweise mit ziemlich diffusen Programmen an die Öffentlichkeit treten. Zu ihren Gründungsmitgliedern gehört zum Beispiel auch die bekannte Dissidentin Doina Cornea, die sich unter anderem für die Wiedereinführung der Monarchie, für die Rückkehr des im Exil lebenden früheren Königs Michael also, einsetzt. Die neue Liberale Partei und die Umweltpartei - mit einer radikal-grünen Sektion in Temeswar - haben bislang keine große Popularität.

Die Radikaldemokratische Partei, die demnächst von dem Arader Schriftsteller Alexandru Pecican ins Leben gerufen werden soll, orientiert sich am italienischen Modell der Radikalen Partei. Insgesamt sind es jetzt schon 18 Parteien, die bei den Wahlen um die Gunst der Wähler werben wollen. Unmut verursacht bei allen oppositionellen Strömungen der Mangel an Papier, an Kopier- und Schreibmaschinen, an unabhängigen Druckmöglichkeiten. Die Druckereien sind nämlich noch immer kontrolliert durch die Front, ebenso wie Radio und Fernsehen. Trotz aller Versicherungen, die Zensur sei aufgehoben, stoßen alle, die etwas selbständig unternehmen wollen, an die Grenze der neuen Macht.

So fordert die erwähnte Studentendelegation von der Front, endlich eine im Polytechnikum stattgefundene und vom Fernsehen aufgezeichnete Debatte zu übertragen, in der unter anderem auch der Rücktritt von Fortuna gefordert wurde. Statt dessen werden den Zuschauern die Ceausescu-Villen in Temeswar gezeigt, der ehemalige Vorsitzende einer landwirtschaftlichen Muster-Produktionsgenossenschaft, Ioan Josu ( „Held der neuen Argrarrevolution“ unter Ceausescu), ebenso einige Verkäufer, die Lebensmittel gehortet haben.

Die Fernsehberichte über diese „Schieber“ unterscheiden sich in ihrem anklagenden Ton nicht von ähnlichen Kampagnen unter Ceausescu. Dem Conducator gefiel es nämlich, einige Schwarzhändler oder einfach untergeordnete Bürokraten anzugreifen, um zu zeigen, daß er für die Interessen des Volkes eintritt. So wie damals haben in diesen Berichten die Angeklagten keine Möglichkeit der Verteidigung. Und so wie damals haben die Kampagnen gegen die Schwarzhändler auch heute das Ziel, über die Ursachen der weiterhin bestehenden Versorgungslücken hinwegzutäuschen. Die alten Mechanismen und Denkstrukturen sind weiterhin in Kraft. Die Politik, die Sündenböcke sucht und findet, wird unter neuen Vorzeichen fortgesetzt.

Währenddessen sind andere Büros der FNR von hektischem Treiben erfüllt. Junge RevolutionärInnen haben die Stellen der früheren griesgrämigen Sekretärinnen übernommmen. Es herrscht Aufbruchsstimmung hier. Die jungen Leute rauchen bulgarische BT oder amerikanische Kent-Zigaretten - die zweite Währung in Rumänien -, trinken Pepsi und gespendeten West-Kaffee. Solche Luxuswaren sind in den Kaufhäusern der Stadt nicht zu sehen. Die Leute stehen wie eh und je in langen Schlangen vor den Geschäften. Fast alles ist Mangelware, immerhin, seit dem Sturz des Diktators gibt es genügend Brot, manchmal sogar Fleisch. Die Stromversorgung funktioniert, aber auf den Straßen ist es nachts noch immer stockdunkel wie in den finstersten Zeiten Ceausescus.

Es fehlt an kompetenten Leuten. Wer sich als Experte ausgibt, hat leichtes Spiel, eine Stellung zu finden. Und so können auch Anhänger des alten Regimes in der Bürokratie und den Institutionen unterschlupfen. Oft halten die Kollegen der Kompromittierten den Mund. Viele Menschen sind empört, daß der ehemalige Temeswarer Zensor, Coriolan Babeti, nun zum Vizekulturminister avancierte. Ähnliches ist auch in Arad geschehen. Horia Truta, unter Ceausescu oberster Kulturapparatschick im Kreis Arad, gehört nun zum Beraterstab des Kulturministers. Überhaupt jetzt, wo die revolutionär-romantische Aufbruchsstimmung zusehends durch administrative Formen der Machtausübung ersetzt wird, ist es nur sehr schwer, die Wendehälse zu entlarven. Verstärkt durch die allgegenwärtige Militärpräsenz weicht die alte Angst einer neuen. Zuviel ist noch ungewiß.

In den Redaktionen der Zeitungen sitzen dieselben Leute, die noch vor wenigen Wochen Ceausescu beweihräucherten. Ausnahme war der Chefredakteur der Temeswarer rumänischen Parteizeitung, Teodor Bulca. Er veröffentlichte noch am 22.Dezember 1989 einen Lobgesang auf den ehemaligen Ersten Sekretär des Kreisparteikomitees, den oben erwähnten Radu Balan, den er als Freiheitskämpfer präsentierte, obwohl er mitverantwortlich für die Eröffnung des Feuers gegen die Demonstranten gewesen war. Immerhin kostete dieser Artikel den übereifrigen Chef der Zeitung den Stuhl.

Und auch in der deutschen Neuen Banater Zeitung gab es Krach. Die Gazette hatte den Text in vollem Wortlaut übernommen. Anfang Januar mußte sich die Chefredakteurin Maria Stein, zusammen mit dem führenden Redaktionskollegium, vor den Kollegen verantworten und auch Rechenschaft über „ihre Beziehungen“ zur Securitate ablegen. Die Neue Banater Zeitung wird seither von einem Triumvirat geleitet, die Chefredakteurin ist jedoch weiterhin im Redaktionskollektiv.

Minderheiten regen sich

Seit der Revolution sind auch die Nationalitäten wieder zu neuem Leben erwacht. Auf der Landesversammlung des Demokratischen Forums der Rumäniendeutschen in Temeswar präsentierten zwei Delegierte die Ergebnisse einer Umfrage in der Gemeinde Großalisch im Kreis Muresch in Siebenbürgen, aus der hervorging, daß von 210 Befragten 119 sofort in die BRD auswandern wollen, 57 noch keinen festen Entschluß gefaßt haben und nur 34 in Rumänien bleiben möchten.

Es mag sein, daß es noch viele andere Gründe gibt, Rumänien auch heute noch in Richtung Bundesrepublik zu verlassen. Gründe für das Bleiben zu finden, ist jedenfalls gegenwärtig noch nicht leicht. Es ist sicher mehr als fragwürdig, wenn ein Journalist vom Schlage eines Peter Müller, der auf dem letzten Parteitag im November als Protokollführer aufgetreten ist, sich nun als Anti-Ceausescu-Kämpfer präsentiert und lautstark für die Rechte seiner deutschen Mitbürger eintritt. Die Forderungen der Rumäniendeutschen nach kultureller Autonomie, die in einer Denkschrift an die Bukarester zuständigen Stellen geschickt wurden - unter anderem an den Minderheitenminister und Kämpfer für die Rechte der Ungarn, Karoly Kiraly -, stoßen in den Reihen der Rumäniendeutschen auf Skepsis. Die meisten sagen, es sei jetzt zu spät, für die „Erhaltung unserer Eigenständigkeit“, wie es in der Denkschrift heißt, einzutreten.

Ähnliche Forderungen stellten auch die anderen nationalen Minderheiten in Rumänien, die ebenso wie die deutsche in der Epoche unseligen Angedenkens in ihrer ethnischen Substanz bedroht waren. Die etwa zwei Millionen Ungarn gründeten ihren Demokratischen Verband und unterstützen lebhaft den Prozeß der Demokratisierung, sind sich aber noch nicht darüber im klaren, ob sie eine eigene Partei gründen wollen. Und selbst die in der Vergangenheit massiven rassischen Verfolgungen ausgesetzte Romabevölkerung des Banats, rief ihren Patriotischen Rat der Nationalen Rettung ins Leben.

Securitate

Überall gibt es neue Initiativen und neues politisches Leben in Temeswar. Und dennoch bleibt vieles im dunkeln. Auch bei der Armee, die sich nun als Garant des demokratischen Übergangs darstellt. Die Rolle der Armee während der blutigen Tage in Temeswar wird weiterhin verharmlost. Die Führung der Streitkräfte bestreitet vehement, in den Anfangstagen der Revolution auf das Volk geschossen zu haben.

Auch über die Securitate herrscht Schweigen. Tatsache ist, daß in Temeswar viele ehemalige Securitate-Offiziere auf freiem Fuß sind, ja sogar hohe Ämter bekleiden, obwohl es offiziell heißt, die Staatssicherheit sei abgeschafft. Beim Sitz der Temeswarer Kreispolizei traf ich nicht nur meinen ehemaligen Securitate-Vermittlungsbeamten, Major Petre Pele, der mich 1975 wegen „antisowjetischer Propaganda“ ins Gefängnis gebracht hatte, sondern auch den berüchtigten Chef des Paßamtes, Oberst Orleanu.

Bei der Militärstaatsanwaltschaft will niemand die genaue Zahl der verhafteten Securitateleute kennen, geschweige denn die Namen der Verhafteten der Öffentlichkeit preisgeben. Der derzeitige militärische Garnisionskommandant, Generalmajor Gheorge Popescu, gab in einem Interview lediglich bekannt, daß sich die hohen Parteifunktionäre Ilie Matei und Ioan Coman in Untersuchungshaft befinden.

Die ungarischsprachige Lokalzeitung 'Remesvari Uj Szo‘ (Das Neue Wort) behauptet, es gebe gerade 32 inhaftierte Repräsentanten des alten Regimes in der Stadt, angesichts der systematischen Morde vor und während der Revolution immer noch eine so niedrige Zahl, daß der Verdacht, die Suche nach den Mördern werde nicht systematisch vorangetrieben, weiter genährt wird.