Wie frei macht die neue Pille?

Hochgepriesen von der Presse, verteufelt von den LebenschützerInnen: „RU 486“, die Abtreibungspille aus Frankreich, verdient weder das eine noch das andere / Wichtig ist die offene Diskussion über alle Abbruchmethoden  ■  Von Helga Lukoschat

„Buy french“ - in Großbritannien machen Feministinnen per Button Werbung für die Abtreibungspille. In den USA fordert die einflußreiche Frauenorganisation NOW ihre Zulassung. In Italien gibt es Seminare der Kommunistischen Partei über die Vor- und Nachteile der RU 486, der Abtreibungspille aus dem Hause des französischen Pharmaunternehmens Roussel-Uclaf. In der Bundesrepublik halten sich die Frauen - noch - zurück. Dabei ist längst ruchbar geworden, daß der Frankfurter Pharmamulti Hoechst, mit dem Roussel-Uclaf eng verbunden ist, auf Druck in- und ausländischer LebensschützerInnen die RU 486 „nicht zur Verfügung stellen“ wird. Die moralischen Bedenken gegen die neue Pille gehen „quer durch das Haus“, so eine Sprecherin des Unternehmens. „Es ist nicht unsere Aufgabe, eine Medikament zu vertreiben, das Leben verhindert“, hatte ein Vorstandsmitglied bei Hoechst erklärt.

Aber müssen Frauen zwangsläufig dafür sein, wenn LebensschützerInnen dagegen sind? Was ist dran an der Abtreibungspille, welche Vorteile könnte sie Frauen tatsächlich bieten?

In der bundesdeutschen Presse wird die RU 486 mit sehr viel Wohlwollen bedacht; in der 'Zeit‘ zum Beispiel wurde sie als medizinischer Fortschritt gepriesen. Doch damit steht eine schonende Methode wie die Absaugung plötzlich als gefährlich und veraltet da.

Für Renate Sadrozinski vom Familienplanungszentrum im Hamburg verläuft die Diskussion damit in die falsche Richtung. Der langjährigen Pro-Familia-Mitarbeiterin geht es um eine „enttabuisierte Debatte über sämtliche Abbruchmethoden“ - was für die eine Frau gut ist, muß es für die andere nicht sein. Kritik muß sich die hochgepriesene Pille auch aus den Reihen feministischer Gesundheitsprojekte gefallen lassen. Ihre Skepsis gilt vor allem den noch unerforschten Langzeitwirkungen des Medikaments. „Darüber wissen wir überhaupt noch nichts“, so Conny Hühn vom Frankfurter Frauengesundheitszentrum. Die ersten Testreihen mit der RU 486 begannen zwar schon 1981 in Genf, und seit der Freigabe der Pille im Sommer 1988 gibt es in Frankreich positive Erfahrungen mit über 30.000 Frauen - aber Schädigungen können sich oft erst in der zweiten Generation zeigen. Denn die Wirkungweise der RU 486 basiert auf einem synthetischen Hormon. „Besonders in diesem Bereich“, warnt Renate Sadrozinski vor zuviel Euphorie, „sollten wir sehr skeptisch sein.“ So müßten zum Beispiel die Erfahrungen mit dem künstlichen Hormon DES nachdenklich stimmen. DES wurde lange Zeit als Mittel gegen Unfruchtbarkeit verabreicht. Erst bei den Töchtern und Söhnen der Patientinnen zeigten sich dann die Folgen: ein erhöhtes Krebsrisiko und die Gefahr dauerhafter Unfruchtbarkeit. Künstliche Fehlgeburt

Die unmittelbaren Nebenwirkungen bei der Einnahme der RU 486 scheinen sich dagegen tatsächlich in Grenzen zu halten. In Frankreich wurde in den letzten eineinhalb Jahren jeder „Fall“ penibel protokolliert und an das französiche Gesundheitsministerium weitergeleitet. Möglich ist dies, weil die Pille nur in speziellen Kliniken und unter ärztlicher Aufsicht verabreicht werden darf. Roussel-Uclaf hatte nach Protesten aus dem französichen Klerus und aus dem Hause Hoechst die Pille zunächst zurückgezogen. Erst nach dem Machtwort von Gesundheitsminister Claude Evin, der die Pille das „moralische Eigentum der Frauen“ nannte, wurde sie im Sommer '88 wieder freigegeben - aber eben unter strikten Auflagen. Niemand kann sie die RU 486 in der Apotheke kaufen.

Wie aber wird der Abbruch per Pille von den Frauen selbst empfunden? Die RU 486 macht Abtreibungen keineswegs zu einem „Kinderspiel“, wie fanatisierte LebenschützerInnen befürchten mögen. Die Prozedur zieht sich in der Mehrzahl der Fälle über mehrere Tage hin und kann mit starken Blutungen, Schmerzen und Übelkeit verbunden sein. Im Prinzip kommt es nach Einnahme der Pille zu einer Fehlgeburt künstlich herbegeführt durch ein Antihormon zum Schwangerschaftshormon Progesteron. Progesteron (auch Gelbkörperhormon genannt) hat u.a. die Aufgabe, die Gebärmutterschleimhaut durch Anreicherung mit Nährstoffen auf die Einnistung eines befruchteten Eis vorzubereiten sowie in der ersten Schwangerschaftsphase die Aufrechterhaltung der Schleimhaut zu gewährleisten. Für das Zusammenspiel zwischen dem Schwangerschaftshormon und den Gebärmutterzellen sorgen sogenannte Rezeptoren. Dem Erfinder der RU 486, dem französichen Wissenschaftler Etienne-Emile Baulieu, gelang es nun, ein Hormon entwickeln, das dem Gelbkörperhormon zum Verwechseln ähnelt und sich deshalb an die Rezeptoren anlagern kann. Die Wirkungsweise des Progesteron wird blockiert, die Nahrungszufuhr unterbrochen und das befruchtete Ei schließlich ausgestoßen. In 96 Prozent der Fälle ist die RU 486 wirksam, das heißt vier von hundert Frauen bleibt ein anschließender chirurgischer Eingriff nicht erspart. Verabreicht wird die Pille bis zur fünften Woche nach Ausbleiben der Regel.

In einer der rund 800 französichen Kliniken erhalten Frauen nach einem Aufklärungsgespräch drei Tabletten mit einer Dosis von je 200 Gramm. 98 Prozent bekommen nach 48 Stunden

-wiederum im Krankenhaus - eine Spritze oder Vaginalzäpfchen mit mit 0,25 Milligramm Prostaglandine, einem Hormon, das die krampfartige Zusammenziehung der Gebärmutter bewirkt. Weil Prostaglandine empfindliche Schmerzen hervorruft, wird vielen Frauen zusätzlich ein Schmerzmittel verabreicht. Bei 80 Prozent der Frauen erfolgt der Ausstoß dann innerhalb der nächsten vier Stunden.

Als Nebenwirkungen werden Übelkeit und Erbrechen und starke Blutungen genannt. Im Pariser Krankenhaus Broussais, das sich der weltweit umfassendsten Erfahrungen rühmt, heißt es dazu, die genannten Nebenwirkungen seien „äußerst selten“ und geringer als bei anderen Abbrüchen. Auch die Risiken für die nächste Schwangerschaft sollen geringer sein als bei den herkömmlichen Methoden. Doch dafür steht der Beweis noch aus. „Horror„vorstellungen

über Absaugmethode

Zuverlässige Studien über die Risiken des ambulanten Schwangerschaftsabbruchs liegen im deutschsprachigen Raum nicht vor. Sicher ist allerdings, daß bei der Absaugmethode die Gefahr besteht, Gebärmutter und Muttermund zu verletzen. Auch Infektionen sind möglich - wie bei jedem operativen Eingriff. Die Studie von Ketting/Praag über „Schwangerschaftsabbrüche im internationalen Vergleich“ verweist auf US-amerikanische Untersuchungen Anfang der 80er Jahre: danach werden die Risiken einer langanhaltenden Schädigung - zum Beispiel der Fruchtbarkeit - mit ein bis zwei Prozent angegeben. Für Renate Sadrozinski, die im Auftrag von Familienplanungszentren der Pro Familia zur Zeit die erste Untersuchung über die Risiken des ambulanten Schwangerschaftsabbruchs fertigstellt, ist jedenfalls klar: „Die Risiken haben sich gegenüber früheren Zeiten erheblich verringert.“ Doch immer noch herrschten bei Frauen „Horrorvorstellungen“: „Abtreibungen sind hierzulande tabuisiert. Letztlich verhindert der Paragraph 218 deshalb auch eine offene Diskussion und Aufklärung.“ Auch bei feministischen Gesundheitszentren machen Beraterinnen die Erfahrung, daß Frauen - vor allem aus den südlichen Bundesländern - eingeschüchtert und verängstigt sind. Viele Frauen seien danach „ganz erleichtert“, berichtet Conny Hühn aus Frankfurt. Tatsächlich dauert eine Absaugung nicht länger als 10 Miuten. Als erstes wird der Muttermund lokal betäubt; anschließend wird er mit hauchdünnen Metallstäbchen geweitet. Dann wird eine feine Kanüle eingeführt und an das Unterdruckgerät angeschlossen. In den meisten Fällen nehmen die ÄrztInnen zur Sicherheit noch eine sogenannte Nachcurettage vor: mit einer stumpfen Curette werden die Innenwände der Gebärmutter abgefahren. Nach einer individuellen Ruhepause können die Frauen dann nach Hause gehen. Mehr Selbstbestimmung

Mit Vollnarkose, stärkeren Schmerzen und anschließenden Blutungen ist die Ausschabung verbunden; ein Krankenhausaufenthalt ist unausweichlich. Trotzdem werden immer noch 30 bis 40 Prozent der Abtreibungen in der Bundesrepublik, so die Schätzung von Renate Sadrozinski, nach dieser Methode vorgenommen.

Bei aller Skepsis gegenüber der RU 486 befürwortet die Schwangerschaftsberaterin dennoch eine Zulassung der Pille in der Bundesrepublik: Es sei wie bei der Diskussion um das „richtige“ Verhütungsmittel: „Es gibt kein Allheilmittel, alle haben Vor- und Nachteile.“ Wichig seien Information und individuelle Wahlmöglichkeiten. So könne die RU 486 für diejenigen Frauen gut sein, die große Angst vor einem operativen Eingriff hätten oder für Frauen, die ihre Wirkungsweise als angemessener und natürlicher empfinden könnten als die Kanüle oder die Curette der ÄrztIn.

Bei der Abtreibung per Pille übernehmen Frauen auf jeden Fall größere Verantwortung - aber nicht immer wird dies als angenehm empfunden. „Bei dem chirurgischen Eingriff merkt man nichts. In einer Viertelstunde ist alles vorbei“, berichteten Französinnen einer Reporterin vom 'Stern‘. „Die Sache liegt in der Hand des Arztes. Hier machst du es selber. Und mehrere Tage lang mußt du dich damit auseinandersetzen“. Andere Frauen wollten sogar nicht mehr „darüber reden und nicht mehr daran denken“.

Sicher ist es, daß die psychische Einstellung zur Abtreibung die Wahrnehmungen und Empfindungen beeinflussen kann. Frauen mit Schuldgefühlen und Unsicherheiten werden eine „bewußte“ Abtreibung sehr viel schmerzhafter emfinden als Frauen, die den Abbruch für sich bejahen und akzeptieren. Für die feministischen Gesundheitsfrauen ist so die Hoffnung, die RU 486 könnte Frauen mehr Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von der Ärzteschaft bescheren, das wichtigste Argument für die Pille. Doch bei dem hiesigen Anti-Abtreibungsklima ist das wohl Zukunftsmusik. Und von einer enttabuisierten Diskussion über Abtreibungsmethoden kann keine Rede sein: völliges Stillschweigen wird zum Beispiel über Methoden wie Bindegewebsmassage und Akupunktur gebreitet. Natürlich können diese Ansätze, die viel Körperbewußtsein und Vertrauen verlangen, nicht zur Massenmethode werden. Dennoch gibt es in der Bundesrepublik darüber keine offizielle Forschung, wie Renate Sadrozinski moniert.

Abtreibung ohne Kontrolle der Ärzteschaft, Abtreibung in Frauenhand - davon sind wir noch weit entfernt.