Konjunktur für Neoliberalismus?

Wird es in der DDR Betriebsgewerkschaftsleitungen oder Betriebsräte geben? / AEG-Chef Dürr: Betriebsräte sind „eine feine Sache“  ■  Aus Berlin Anita Kugler

Die Tür zur DDR steht für die bundesdeutschen Unternehmen ganz weit offen. Denn Joint-ventures sind ausdrücklich von Planauflagen befreit, sie haben Vertragsfreiheit für den Binnen- und Außenmarkt. Eine Restriktion gibt es aber noch, nämlich das Arbeitsgesetzbuch, das die „Mitbestimmung der Werktätigen an der Leitung des Unternehmens“ vorschreibt. Unentschieden ist bisher, ob das weiter durch die Betriebsgewerkschaftsleitungen des „Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes“ (FDGB) gewährleistet wird oder ob sich unabhängige Betriebsräte bilden.

Für Heinz Dürr, den Vorstandsvorsitzenden der AEG, ist die Sache klar. Auf einer arbeitsmarktpolitischen Konferenz der IG Metall (West) erklärte er, daß das existierende bundesrepublikanische Betriebsrätegesetz eine feine Sache sei und in der DDR schleunigst Betriebsräte gewählt werden sollten. Das Vetorecht der bestehenden Betriebsgewerkschaftleitungen hält er für eine Produktivitätsbremse, die die Unternehmen mit „großer Sorge“ betrachteten. Und: „Der Widerstand des FDGBs gegen Betriebsräte ist bisher der deutlichste Beweis dafür, daß der FDGB alle Fäden im Betrieb in der Hand behalten möchte“, erklärte der CDU-Sozialausschüßler Scharrenbroich.

Aber auch in der DDR werden heiße Diskussionen über die Frage: Unabhängige Betriebsräte ja oder nein? geführt. In vielen Betrieben wurden bereits - ohne rechtliche Basis Fakten geschaffen. Korrumpierte oder SED-PDS -Betriebsgewerkschaftsleitungen wurden davongejagt und vom FDGB unabhängige Betriebsräte gewählt.

Damit wiederholt sich in der DDR eine Debatte, die in der Bundesrepublik seit Juli 1952 erledigt ist. Die Verhältnisse ähneln sich, damals wie heute sitzen die Unternehmer in den Startlöchern, nur die Akteure haben die Rollen vertauscht. Bis 1952 zogen die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer an einem Strang. Beide wollten durch ein Betriebsverfassungsgesetz die paritätische Mitbestimmung, die sie in der Montanindustrie gerade verteidigt hatten, bundesweit und für alle Branchen gesetzlich sichern.

Als sich nach der ersten Lesung des Gesetzes im Bundestag abzeichnete, daß die Adenauer-Mehrheit Gewerkschaften und Betriebsräte voneinander trennen wollte und die vorgesehenen gesetzlich unabhängigen Betriebsräte zu einer „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ mit den Arbeitgebern verpflichtet werden sollten, liefen die Gewerkschaften Sturm. Eine Hauptsorge der Gewerkschaften aufgrund der Erfahrung aus der Weimarer Zeit mit ihren Richtungsgewerkschaften war, daß die Existenz unabhängiger Betriebsräte zu syndikalistischen und betriebsegoistischen Entscheidungen führen könnte. Sie befürchteten gleichermaßen „Betriebsratsfürsten“ und das Entstehen von Oppositionsgruppen, die den Alleinvertretungsanspruch in Frage stellten.

Doch das Betriebsverfassungsgesetz wurde - trotz Druckerstreik und Massenprotesten - im Sommer 1952 verabschiedet. Es war ein ungeliebtes Gesetz, mit dem man sich dennoch arrangierte. Das Gesetz wurde 1972 in einigen Punkten modifiziert, gilt aber im Prinzip immer noch. Otto Brenner, der spätere Vorsitzende der IG Metall, hat nach Verabschiedung des Gesetzes eingestanden, daß der verlorene Kampf um das Betriebsverfassungsgesetz die erste entscheidende Niederlage der Gewerkschaften war und gleichzeitig der Beginn eines „wiedererstarkenden restaurativen Unternehmertums“.

Nur in Groß-Berlin liefen nach dem Krieg die Uhren anders. Hier war der Widerstand des Zentralverbandes FDGB gegen Betriebsräte ein Spaltungsgrund. Eine „Unabhängige Gewerkschaftsopposition“ (UGO) formierte sich und witterte in den unabhängigen Betriebsräten eine Machtbasis gegen die SED. Und in der Tat, die ersten Betriebsratswahlen nach dem alliierten Kontrollratsgesetz stärkten die UGO, die wiederum einige Jahre später zum heutigen DGB-Berlin wurde.

Vor dem Hintergrund dieser Geschichte beurteilen die West -Gewerkschafter die neue Betriebsratseuphorie im Osten skeptisch. Es entsteht die paradoxe Situation, daß die reichen Gewerkschaften im Westen den armen Kollegen im Osten Nachhilfeunterricht darüber erteilen, daß die Betriebsgewerkschaftsleitungen viel mehr Möglichkeiten bieten, die unangenehmen Begleiterscheinungen eines gewinnorientierten Wirtschaftssystems zu verhindern, als das bewunderte Betriebsverfassungsgesetz. Der Berliner Landesbezirksvorsitzende der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, Manfred Müller, kommentiert die seitenverkehrte Situation: „Der Neoliberalismus hat im Osten Konjunktur.“