: Taschenspielertrick macht AKW hundertmal sicherer
Wie bundesdeutsche Atommeiler gesundgerechnet werden: In der Risikostudie der Bundesregierung gehen aus der Not geborene Gegenmaßnahmen bei Unfällen als besonderer Sicherheitsfaktor ein / Was im DDR-Atomkraftwerk Greifswald scharf verurteilt wird, gehört hierzulande zum guten Ton der Sicherheitsphilosophie ■ Von Gerd Nowakowski
Bonn (taz) - Das mehr oder minder ungezielte und teilweise panische Verhalten von Bedienungsmannschaften im Störfall, das dazu führte, daß das DDR-AKW Greifswald wiederholt nur knapp an einer Katastrophe vorbeischrammte, ist in der Bundesrepublik Bestandteil der Sicherheitsphilosophie. Was in der DDR als Ausdruck unverantwortlichen Handelns und veralteter Technik gegeißelt wird, geht in der kürzlich veröffentlichten bundesdeutschen „Risikostudie Kernkraftwerke“ als „anlageninterner Sicherheitsschutz“ mit risikominderndem Faktor ein. Nur mit diesem „Taschenspielertrick“, so der Physiker Lothar Hahn vom Darmstädter Öko-Institut, sei es der Bundesregierung gelungen, ein abnehmendes Risiko für Kernschmelzunfälle zu ermitteln. Und auch die bleierne Taucherglocke, mit der in Greifswald Mitarbeiter zu Reparaturen in den Reaktorkern hinabgelassen werden, finde hierzulande ihre Entsprechung: Bei einem Störfall im AKW Stade seien im Reaktorkern ebenfalls Taucher eingesetzt worden, berichtet das Darmstädter Institut.
Die „Risikostudie Kernkraftwerke, Phase B“ kommt zu einem deutlich geringeren Kernschmelzrisiko als im ersten Teil der Studie, die Ende der 70er Jahre fertiggestellt wurde. Danach sei die Wahrscheinlichkeit für dieses „Ereignis“ dreimal geringer als bisher angenommen. Dieses Ergebnis sei „unseriös“ und „irreführend“, kritisiert Hahn, der für die Schleswig-Holsteinische Landesregierung die Risikostudie bewertet hat.
Um das Risiko herunterzurechnen, seien von der Industrie als „neue Sicherheitsebene“ die sogenannten „Accident -Management-Maßnahmen“ eingeführt worden. Dabei werde angenommen, daß die Bedienungsmannschaften den durchgehenden Reaktor schon nicht im Stich lassen, sondern durch „geeignete Maßnahmen“ das Unglück abmildern oder verzögern. Durch diesen „anlageninternen Sicherheitsschutz“, so hat das Öko-Institut Darmstadt festgestellt, werde in der „Risikostudie“ die Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze um den Faktor 100 heruntergerechnet. Zuvor galt die Sicherheitsphilosophie, daß die Betriebsautomatik auch ohne menschliche Intervention mit dem Störfall fertigwerde.
Von den Verfassern der Studie werde nun zugrundegelegt, so die Darmstädter Wissenschaftler, daß die Bedienungsmannschaften im Unglücksfall fehlerfrei reagieren und rechtzeitig die richtigen Gegenmaßnahmen einleiten. Menschliches Fehlverhalten und Panik werden dabei ausgeblendet. „Zum Kernschmelzen unter hohem Druck kann es damit nur kommen, wenn nach den Sicherheitseinrichtungen auch noch die anlageinternen Notfallmaßnahmen vollständig versagen“, heißt es dazu atemberaubend schlicht bei Reaktorminister Töpfer (CDU).
Was der deutschen Atomindustrie billig ist, ist der US -Atomenergiebehörde freilich nicht geheuer. Durch „Accident -Management-Maßnahmen“, so heißt es in einer Stellungnahme, werde überhaupt erst ein „increased potencial for accident“ erzeugt. Daß „gesunder Menschenverstand die Fehler einer Technologie ausgleichen muß“, läßt auch Sicherheitskritiker Hahn schaudern.
Bewußt vernachlässigt würden in der Risikostudie außerdem die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Unfallablauf einer Kernschmelze. Die Annahme, daß es nur bei zwei Prozent aller schweren Unfälle zum Bruch der Sicherheitshülle mit massiver Radioaktivitätsfreigabe kommt, sei überholt. Vielmehr geschehe dies in nahezu allen Fällen bereits nach wenigen Stunden. Die Folgen seien deshalb weit katastrophaler, weil weniger Zeit für Gegenmaßnahmen und Evakuierungen bleibt. Die Bundesregierung behilft sich in dieser Situation auf ihre Art. Sie streitet diese Erkenntisse rundweg ab: „Nur bei einem sehr geringen Teil von Kernschmelzunfällen“, so beschied sie eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Daniels, sei „ein mögliches frühes Containment-Versagen nicht auszuschließen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen