Politik und Moral

Der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter unterhielt sich mit Gorbatschows Berater Valentin Falin über die Notwendigkeit eines neuen Denkens  ■ G E S P R Ä C H

Horst Eberhard Richter: Erwarten Sie, daß sich nun, nach Ende des Kalten Krieges, eine neue Moral in der internationalen Politik durchsetzen kann?

Valentin Falin: Wir dürfen einander nicht länger beschuldigen. Wir müssen unsere Kräfte vereinigen, um eine bessere Welt heute, nicht morgen, zu konstruieren. Morgen wird es zu spät sein. Wir brauchen eine andere Politik aus demokratischen und aus ökologischen Gründen. In der Ökologie geht es heute bereits auch um eine Gefährdung der genetischen Eigenschaften der Menschheit. Aber schlimmer noch wäre eine Zerstörung des Geistes, wenn der Mensch aufhörte, ein Mensch zu sein. Das wäre das Allerschlimmste. Wir haben über diese Kluft schon einmal gesprochen, über die Kluft zwischen Moral und Politik, Moral und Wirtschaft, Moral und alltäglichem Leben. Wenn wir diese Kluft nicht überwinden, dann ist der Mensch verloren.

Nun haben die Diskussionen auf dem eben beendeten „Global Forum on Environment and Development“ aber wieder gezeigt, daß die Vertreter einer solchen Moral in der Regel nicht die Politik bestimmen. Sie bekommen Literatur- und Nobelpreise. Aber den herrschenden Politikern sind sie eher unsympathisch.

Ich stimme Ihnen zu. Bis heute spielen technokratische und machtpolitische Erwägungen eine größere Rolle als der Geist. Viel Unheilvolles geschieht noch immer auf Kosten des Geistes, auf Kosten der fundamentalen Werte, von deren Respektierung die Zukunft der Zivilisation abhängt. So leben wir noch immer auf Kosten zukünftiger Generationen. Und auf Kosten der Dritten Welt, weil wir uns darüber keine Gedanken machen, unter welchen Umständen Tausende späterer Generationen leben können - sofern wir sie dieser Lebenschancen nicht überhaupt berauben. Wie wir das hier bei uns zu Hause schaffen können, das ist das größte Problem von Perestroika. Die Schwierigkeit ist die Entwicklung von politischer Kultur, d.h. von geistiger Kultur, von Toleranz, der Kunst, nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf die anderen zu hören und ihre Interessen zu verstehen.

Bei unserer Untersuchung zusammen mit Frau Professor Andreeva wurden je 1.000 sowjetische und westdeutsche Studenten unter anderem gefragt, welche Bedeutung die Religion für sie habe. Überraschenderweise ist Religion für die Studenten der Moskauer Universität wichtiger als für ihre deutschen Kommilitonen.

Ich glaube, man kann verallgemeinernd sagen, daß bei uns mehr philosophische, humanistische und religiöse Literatur gelesen wird als im Westen. Der Umgang mit Büchern bedeutete Freiheit. Er war in unfreier Zeit eine Hütte für den Geist, die man bei uns sehr nötig hatte.

So wie bei uns in der Hitlerzeit.

Ja, stets unter totalitären Bedingungen. Schon vor sechs bis siebenhundert Jahren waren alte Texte ein Kapital unserer Nation. Es war eine Basis des Selbstbewußtseins, der Identität. Ich glaube, daß bei uns das Konsumdenken eine geringere Rolle spielt als im Westen. Wahrscheinlich sind wir in dieser Hinsicht noch nicht so verdorben. Kann sein, das kommt noch. Aber wenn, dann hoffentlich in einer zivilisierteren Form als bei Ihnen. Jedenfalls glaube ich, daß bei uns noch häufiger gefragt wird, wie es Leo Tolstoi am Ende seines Lebens in seinem Tagebuch notiert hat: Wer bin ich? Wozu existiere ich? Wozu lebe ich? Vielleicht werden solche Fragen hier eher gestellt, weil der Mensch noch nicht im gleichen Tempo lebt, der gleichen Hektik ausgesetzt ist wie bei Ihnen. Dieses langsamere Tempo hat Schattenseiten, aber es hat auch etwas Positives. Ich selbst bin Atheist. Aber viele Menschen finden im Glauben eine geistige Stütze. Nur sollte der Glauben nicht zum Fanatismus gegen Andersdenkende werden. Worauf es ankommt, ist, die Freiheit des Gewissens zu hüten. Das sollte das bestgehütete Recht des Menschen sein. Wird dieses Recht verletzt, dann wird das Gewissen selbst in Frage gestellt. Aber das Gewissen ist das Rückgrat des Menschen.

Ich hatte Ihnen mein Buch „Die Chance des Gewissens“ geschenkt.

Ich habe es gelesen. Wir denken beide hier auf gleicher Welle. Aber bei uns gibt es auch eine Unbeweglichkeit des Denkens, eine Faulheit des Geistes. Man glaubte, man müsse die Partei zu der Perestroika nur einladen. Und dann werde das neue Denken sich schnell etablieren. Das Wort werde zur Tat werden, und das ging nicht so.

Wenn sich durch Jahrhunderte Zarenherrschaft und durch die stalinistische Diktatur ein Gehorsamkeitsautomatismus tief in die Menschen eingeprägt hat und man ihnen nun plötzlich Freiheiten für Eigeninitiativen gibt, muß man dann nicht erwarten, daß auch intelligente, phantasievolle Leute längere Zeit brauchen, um ihre Freiheiten kreativ zu nutzen und spontan aktiv zu werden?

Für diese Schlußfolgerung können Sie in unserem Land augenblicklich ganze Kataloge von Bestätigung finden. Den Menschen steht jetzt eine Fülle neuer Rechte zur Verfügung. Aber manche sind nicht bereit, diese Rechte zu gebrauchen. Andere mißbrauchen sie. Nur eine dünne Schicht holt aus den Rechten für sich und die Gesellschaft Sinnvolles heraus. Es gilt, die Leute besser zu motivieren. In den USA geschieht das durch materielle Interessen. Wir haben 70 Jahre lang versucht, mit ideologischen Kategorien zu motivieren: internationales Solidaritätsgefühl, die Partei, das Vaterland. Über materielle Anreize zu sprechen, das galt fast als schamlos. Jetzt sind die Leute unsicher. Und mißtrauisch: Ich pachte das Land - für 20 Jahre. Aber wie wird das dann für meinen Sohn sein? Gorbatschow ist gut. Aber was wird nach Gorbatschow sein? Da steckt noch viel Furcht in den Knochen.

Hinzu kommt doch wohl auch die Verunsicherung durch die aufgedeckte Korruption vieler Funktionäre. Es sollte soziale Gleichheit herrschen, aber die Mächtigen lebten mit großartigen Privilegien.

Ja, sie predigten Wasser und tranken heimlich Wein.

Wirkt diese moralische Krise nicht deprimierend?

Die Enttäuschung ist groß. Aber in der Empörung steckt auch etwas Gutes. Ich meine die Energie dieser Empörung. Damit verbunden ist eine Hoffnung auf Veränderung. Welches werden die Veränderungen sein? Werden sie mehr durch kapitalistische Züge oder durch andere Elemente bestimmt sein? Die Antwort wird die Geschichte geben. Wichtig ist, daß die entstehenden neuen Ideen sich nicht gegenseitig verfeinden. In diesem Sinne hat Gorbatschow gesagt: „Wir müssen unsere internationalen Beziehungen entideologisieren.“

Es geht darum, neue Fragen zu stellen. Wir haben hüben und drüben keine endgültigen Wahrheiten. Wir im Westen sehen, daß unser Fortschrittswettbewerb, der vom Profitmotiv dominiert wird, aus ökologischen Zwängen fragwürdig geworden ist. Und bei Ihnen muß der Glauben an die Unfehlbarkeit des Systems aufgegeben werden.

Ja, wenn wir das nicht verstehen, werden unsere Probleme so anwachsen, daß die Zivilisation daran zugrunde geht. Unsere einzige Chance ist, daß wir mit der Entwicklung der materiellen Verhältnisse geistig nicht nur Schritt halten, sondern uns sogar geistig schneller entwickeln. Alle Tragödien dieses Jahrhunderts waren das Ergebnis eines umgekehrten Verhältnisses. Wir haben nur diese Hoffnung, daß der Mensch vernünftiger wird als die Produkte, die er schafft. Bleibt er Gefangener seiner Produkte, seiner Technologien, ist er verloren.

Das Gespräch fand am 19.Januar in Moskau statt.