Deutsche Einheit per Abstimmung?

■ Genscher und Baker: Nato nicht über Bundesgebiet ausdehnen / UdSSR fordert Neutralität und bedingungslose Anerkennung der Grenzen / Die Völker sollen über deutsche Einheit abstimmen

Washington/Moskau (dpa) - Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher ist sich nach eigenen Worten mit US-Außenminister James Baker einig, daß die Nato im Falle einer Vereinigung Deutschlands nicht über das derzeitige Bundesgebiet hinaus nach Osten ausgedehnt werden sollte. Dies gelte nicht nur für das Gebiet der heutigen DDR, sondern auch für alle anderen Staaten Osteuropas, sagte Genscher nach einem zweistündigen Gespräch mit Baker am Freitag abend in Washington.

In Moskau verlangte am Wochenende der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse unterdessen, daß die Deutschen vor einer Vereinigung „bedingungslos“ die gegenwärtigen Nachkriegsgrenzen Europas anerkennen müßten. Beide Staaten müßten außerdem zur Neutralität und zu praktischen Maßnahmen in Richtung auf eine Demilitarisierung gedrängt werden, erläuterte Schewardnadse der amtlichen sowjetischen Nachrichtenagentur 'Tass‘ die Haltung der UdSSR.

Nach Schewardnadses Ansicht sollte außerdem die öffentliche Meinung zur deutschen Einheit befragt werden. Dies könne etwa durch ein europäisches Referendum mit Beteiligung der USA und Kanada oder zumindest durch eine breite Debatte in den Parlamenten geschehen.

Schewardnadse: Vorsicht

vor neuem Militarismus

„Alle Völker, insbesondere die Sowjetunion, sollten ein Recht auf Garantie haben, daß von deutschem Boden niemals mehr ein Krieg ausgeht. Ich glaube, die Völker werden die deutsche Einheit nur dann akzeptieren und unterstützen, wenn dies gesichert ist“, erklärte der sowjetische Außenminister. Nicht die Idee der Einheit wecke „weltweit Vorsicht“, sondern die Wiederbelebung der unheilvollen Schatten der Vergangenheit und die Vorstellung eines möglichen Wachsens des Militarismus‘, die damit assoziiert wird“, so der sowjetische Außenminister.

Genscher ging nach seinem Gespräch mit Baker in Washington zugleich davon aus, daß die Bundesrepublik und die DDR auf einer inzwischen auch von den USA für dieses Jahr in Aussicht gestellten Gipfelkonferenz der 35 KSZE-Staaten eine gemeinsame Haltung zur Deutschlandfrage einnehmen und die „deutsche Sache“ gemeinsam vortragen könnten. Außerordentlich befriedigt äußerte sich der bundesdeutsche Außenminister darüber, daß die US-Regierung jetzt die Einberufung eines KSZE-Gipfels der 16 Nato-Länder, der sieben Mitglieder des Warschauer Paktes und zwölf neutraler europäischer Staaten im Anschluß an ein Abkommen in Wien über den Abbau der konventionellen Streitkräfte (VKSE) unterstützten.

Die Regierungen in Bonn und Ost-Berlin würden „bis dahin eine Verständigung über die Grundelemente ihres künftigen Verhältnisses erreicht haben“. Als möglichen Termin für den KSZE-Gipfel nannte Genscher den Oktober oder November dieses Jahres.

Noch vor dem Treffen mit Genscher hatte Baker in einem Interview mitgeteilt, daß die Frage der Wiedervereinigung ein Spitzenthema seiner Gespräche mit dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse am 8. und 9. Februar in Moskau sein werde. Die Frage der Wiedervereinigung sei nicht dabei, „außer Kontrolle zu geraten“. Aber man müsse sehen, „daß sie ein rascheres Tempo hat, als man vor drei bis vier Monaten vorausgesehen hat“.