Eidgenossen-Stasi im Rampenlicht

Die schweizerische Bundespolizei, auch für den Staatsschutz zuständig, hat 900.000 Spitzel-Dossiers angehäuft - bei knapp sechs Millionen Schweizern / Flächendeckende Bespitzelung als wichtigste Aufgabe / Bundesanwaltschaft vertraut auf Hinhaltetaktik  ■  Aus Bern Thomas Scheuer

„Schluß mit dem Schnüffelstaat!“ fordert ein quer über die Straße gespanntes Transparent. Demonstranten klagen die „Auflösung der politischen Polizei“ ein. Vor deren Hauptquartier verlangen sie Einsicht in die dort gehorteten Spitzel-Dossiers. In einer anderen Stadt sollen bereits erste Staatsschutzakten vernichtet worden sein. Eine Aktivistin kündigt an: „Wir brechen unsere Aktion hier erst ab, wenn wir endlich unsere Karteikarten einsehen können.“

Erfurt, Halle, Karl-Marx-Stadt? Keineswegs. Die Szene wiederholt sich derzeit täglich vor dem Haus Taubenstraße 16 in der schweizerischen Hauptstadt Bern, dem Sitz der Bundesanwaltschaft. Ihr untersteht auch die Bundespolizei (Bupo), der wiederum obliegt der Staatsschutz. Der Vergleich der Bupo mit der Stasi der DDR scheint nicht zu weit hergeholt: Immerhin 900.000 Kontrollkarten über Personen, Organisationen und Ereignisse, so ermittelte eine parlamentarische Untersuchungskommission, führten die beamteten Schnüffler der Alpen-Stasi. Eine reife Leistung in einem Ländchen mit knapp sechs Millionen Einwohnern.

Ans Licht kam der Überwachungsskandal als Abfallprodukt einer anderen Affäre: Vor einem Jahr mußte als Konsequenz der bislang größten aufgedeckten Drogengeldwaschaffäre ausgerechnet die Justiz- und Polizeiministerin Elisabeth Kopp zurücktreten. Ungereimtheiten im Bereich der Drogenfahndung führten zur Einsetzung einer Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK), die Ende des vergangenen Novembers ihren Untersuchungsbericht vorlegte - mittlerweile heimlicher Bestseller auf dem schweizerischen Buchmarkt.

Die Volksvertreter hatten ermittelt, daß sich die Bundesanwaltschaft, anstatt der organisierten Schwerkriminalität und dem Drogenhandel nachzustellen, mit enormem Einsatz der flächendeckenden Bespitzelung der Bevölkerung widmete. Ins Visier nahmen die beamteten Schnüffler alles Oppositionelle oder was sie dafür hielten. Eidgenössische Staatsschützer witterten und wittern Staatsgefährdung traditionell von links und vorzugsweise von Moskau aus gesteuert. Im Frühjahr 1983 etwa ließ der damalige Justizminister Rudolf Friedrich das Berner Büro der sowjetischen Nachrichtenagentur 'Nowosti‘ als vermeintliche Unterwandererfiliale schließen. Die Grundlage hatte ein Bericht der Bundesanwaltschaft geliefert, deren Vorwürfe später freilich dahinschmolzen wie Gletschereis in der Tropensonne.

Die Leidenschaft der Sammler und Jäger aus der Taubenstraße führte zu einem bombastischen Spitzel-Archiv. „Die zentrale Registratur der politischen Polizei“, so erfuhr eine erstaunte Öffentlichkeit aus dem PUK-Report, „enthält rund 900.000 Karten.“ Jede Karte (sogenannte Fichen) bezieht sich auf eine Person, eine Organisation oder ein Ereignis; zu jeder Fiche gehört ein entsprechendes Dossier mit Rapporten kantonaler Nachrichtendienste, Spitzelberichten, Zeitungsartikeln usw. Zwei Drittel der erfaßten Personen sollen Ausländer sein. In der DDR-Stadt Magdeburg stellte ein Bürgerkomitee rund 20.000 Stasi-Dossiers sicher. In Basel, mit Magdeburg vergleichbar, bestätigte der kantonale Polizeichef die Existenz von 30.000 Bupo-Fichen!

Mit besonderer Empörung wurde in der schweizerischen Öffentlichkeit vermerkt, daß zahlreiche BürgerInnen nur deshalb in der Registratur landeten, weil sie ihre sogenannten demokratischen Volksrechte wahrgenommen hatten, auf die die Helvetier so stolz sind, also etwa Unterschriften für eine Volksabstimmung gesammelt oder einfach nur unterschrieben hatten. Bei anderen genügte ein atomkritischer Zeitungsartikel oder ein Leserbrief. Selbst Parlamentarier wurden heimlich überwacht, rund 50 Abgeordneten-Fichen fanden sich im Staatsschutzarchiv. Da hatte eine Abgeordnete in der Parlamentsdebatte gegen das Atomkraftwerk Kaiseraugst votiert. Ein Parlamentarier hatte 1982 bei Basel nur die Grenze passiert: Schon meldete der Grenzbeamte seine Einreise weiter, zusammen mit dem Hinweis, der Herr Nationalrat habe ein ungarisches Visum im Paß. Der Zürcher Nachrichtendienst trug dann die erhellende Erkenntnis bei, der Mann sei Geschäftsführer des Umweltverbandes WWF. Manchem Stellenbewerber, so recherchierte die PUK, ruinierte die Bundesanwaltschaft mit schlichtweg falschen oder blödsinnigen „Erkenntnissen“ gar die berufliche Existenz.

Als erste Reaktion auf die PUK-Enthüllungen hatte Kopp -Nachfolger und Polizeiminister Arnold Koller eiligst Glasnost angekündigt, um die erste Empörungswelle abzupuffern. Doch seither wird in Bern auf Zeit gespielt. Bisher durften jedoch nur Parlamentarier ihre Fichen sichten. Über 50.000 BürgerInnen haben seither schriftlich Auskunft über ihre Registrierung verlangt. Täglich sollen in Bern rund 500 Gesuche eintreffen. Doch die Bundesanwaltschaft scheint auch bei der Aufarbeitung des Spitzelskandals ihren fragwürdigen Methoden treu bleiben zu wollen - in der Taubengasse 16 ist seit Dezember täglich Tag der geschlossenen Tür. Antragstellern wird mitgeteilt, sie könnten ihre Fiche demnächst in ihrem Heimatkanton einsehen. In Bern heißt es, die Fichen (die dazugehörigen kompletten Dossiers bleiben eh Geheimsache) müßten erst entsprechend präpariert werden. So werden beispielsweise Angaben, die Rückschlüsse auf Informanten erlauben, abgedeckt. Das Präparieren einiger zigtausend Kontrollkarten dauert natürlich seine Zeit, und die Subversiven-Jäger jammern schon, der Staatsschutz werde durch die Antragsflut lahmgelegt. Derweil wurde diese Woche aus Luzern gemeldet, der Staatsschutz habe dort bereits erste Akten vernichtet.

Dampf hinter die Forderung nach Glasnost für die Bupo -Karteikästen zu setzen ist das Ziel eines neu gegründeten Komitees „Schluß mit dem Schnüffelstaat“. Es koordiniert die täglichen Demonstrationen in der Taubengasse. Für den 3.März, den Tag vor der nächsten Parlamentssitzung, ruft das Komitee zu einer bundesweiten Kundgebung vor dem Bundeshaus in Bern auf.

Eine Gruppe engagierter Kulturschaffender, unter ihnen die Schriftsteller Max Frisch und Peter Bichsel sowie das Psychoanalytikerehepaar Paul Parin und Goldy Parin-Mathey, haben sich zu einer „Aktion Bupo“ zusammengeschlossen. Sie wollen zeigen, „daß man sich gegen die Arroganz der Macht“ wehren kann und verlangen neben umfassender Akteneinsicht die Einleitung von Strafverfahren. Bisher sickerte erst zu einem dieser Kulturschaffenden, einem sehr prominenten Schriftsteller, durch informelle Kanäle die Bestätigung durch, daß er registriert sei. Seine Fiche soll den Vermerk enthalten: „Schaut auch im Alter noch gerne Frauen nach!“