: Parteiführung verschreibt der KPdSU eine Radikalkur
Die Kontroversen auf dem Plenum des ZK der KPdSU haben es offenbart: Die Kohorten der innerparteilichen Kontrahenten haben sich formiert und sind zur wahrscheinlich entscheidenden Schlacht um die Zukunft der KPdSU angetreten. War es Gorbatschow in den letzten Jahren immer wieder gelungen, durch Rücktrittsandrohungen die Geschlossenheit der Partei zu wahren, kann sein Ziel heute nicht mehr nur die Einheit der Partei sein. Der Druck der Radikalen auf die Zentristen, nun endlich die verfassungsrechtlichen und institutionellen Bedingungen für eine konsequente Umsetzung des Reformkurses zu schaffen, gipfelte in der Gründung einer „demokratischen Plattform“ in der KPdSU Ende Januar, die mit der Bildung einer sozialdemokratischen Partei drohte. Das Drehbuch dazu, so knapp vor dem Plenum, mag allerdings höheren Ortes geschrieben worden sein.
Die Rechte dagegen hat keine personelle und inhaltliche Alternative anzubieten. Allerdings wächst in der Bevölkerung die Unzufriedenheit über die anhaltende Verschlechterung ihrer materiellen Lage. Ein feuchtwarmer Humus für rechtsradikale Tendenzen reift heran, die sich in russisch -nationalistischen und offen antisemitischen Parolen äußern. Sündenböcke werden gesucht, und Wunderheiler haben Hochkonjunktur. Die Befürchtung, diese Stimmungen und Ressentiments könnten von den Konservativen instrumentalisiert werden, sind nicht unbegründet.
Noch vor Jahresfrist lehnte der Parteichef ab, über die Streichung der verfassungsrechtlich verbrieften Führungsrolle der Partei zu diskutieren. Zwei Monate später nun stellt diese Forderung das Kernelement seines Programmentwurfs dar, der dem ZK-Plenum zur Entscheidung vorliegt. Nur dann könne die Partei die „Mission einer politischen Avantgarde erfüllen“, wenn ihre Stellung nicht durch die Verfassung bestimmt werde und sie „gedeihlich mit allen für die Umgestaltung eintretenden Kräften zusammenwirkt“, so Gorbatschow in seiner ZK-Rede. Sollte die kausale Verknüpfung von Preisgabe des Führungsmonopols und Wiedererlangung ihrer Avantgarderolle doch wieder ein Köder für die Konservativen gewesen sein, den Reformvorschlägen des Chefs ein erneutes Mal zähneknirschend zuzustimmen? Was hätte Gorbatschow damit gewonnen? Die aufmarschierten Kohorten würden in einen zermürbenden Stellungskrieg verfallen, die Probleme weiter verschleppt. Damit brächte Gorbatschow weite Teile der Bevölkerung und den radikalen Flügel weiter gegen sich auf.
Jegor Ligatschow, Frontmann der Konservativen, sparte im ZK nicht mit seiner Kritik an der Führung und ihrem Reformpaket, signalisierte aber Einverständnis mit dem Verzicht auf die Führungsrolle. Nun mag Ligatschow damit spekulieren, daß die Eliminierung des Artikel 6 solange ein symbolischer Akt bleibt, wie die Partei die Führung in den Betrieben, der Armee und den meisten anderen Bereichen innehat. Eingedenk der Widerstände, die Gorbatschow bei einem Verbleib der Konservativen zu erwarten hat, kann seine Kalkulation nur auf eines abzielen: Stimmen die Konservativen für die Streichung des Artikels 6 - als des entscheidenden Moments des Programmentwurfs -, werden sie auch gegen die Änderungen der Wahlmodi der Delegierten zum Parteikongreß und weiteren Gremien keinen unüberwindbaren Widerstand mehr leisten.
In den neuen Wahlstatuten hat sich die KP-Führung vom „demokratischen Zentralismus“ verabschiedet. Künftig sollen die Delegierten direkt von der Basis gewählt werden. Jeder „einfache Kommunist“ müsse die Erneuerung der Partei spüren. Dies sei nur möglich, wenn der Großteil der Parteimitglieder „unmittelbar auf die Wahl der Führer Einfluß nehmen“ könne, so Gorbatschow. Sollten die Wahlen zum vorgezogenen Parteitag im Sommer nach den neuen Modi verlaufen, sieht die Parteiführung offenbar die Chance, sich ohne Spaltung der konservativen Vertreter auf diese Weise sanft zu entledigen. Zugleich dokumentiert es die Zuversicht, das Parteivolk noch mehrheitlich hinter sich zu haben. Kann Gorbatschow dem ZK die Zustimmung zur Änderung des Wahlstatuts abtrotzen, hätte er damit allerdings die Kompetenzen des Parteikongresses beschnitten.
Alle jetzt eingebrachten Reformansätze verfolgen ein Ziel, das von Anbeginn leitmotivisch die Umgestaltung durchzieht: Eine deutlichere Aufgabenverlagerung von der Partei auf den Staat, eine Stärkung der staatlichen Exekutive. Offenbar verspricht sich Gorbatschow von der Wahl eines neuen ZK durch einen runderneuerten Parteikongreß zweierlei: zum einen ein heterogenes Profil des ZK, das bisher ein Spiegelbild des „parteistaatlichen Herrschaftssystems“ abgab. Hohe Funktionäre, Parteisekretäre und Minister gehörten ihm fast automatisch an. Zum andern ein Mehr an parlamentarisch abgesicherter Staatsmacht. Diesen Weg hatte Gorbatschow bereits beschritten, indem er das Amt des Vorsitzenden des Obersten Sowjet mit weitgehenden Kompetenzen ausstattete. Und in diese Richtung will er weitermarschieren. An die Ausweitung eines Präsidialsystems nach US-amerikanischem Muster wird dabei gedacht. Das Staatsoberhaupt würde zwar vom Volk gewählt, über seine Absetzung könnte aber nur der einmal im Jahr konferierende Kongreß der Volksdeputierten entscheiden. Damit wäre die Macht des Parteiapparates um ein weiteres eingedämmt, die Position des Staatsoberhauptes demgegenüber erheblich gestärkt.
Kein Wunder, wenn in Moskau Radikale gegen dieses Vorhaben sturmlaufen. Sie befürchten schlichtweg eine Präsidialdiktatur mit „Michail Bonaparte“ an der Spitze. Sollte dieses Manöver Erfolg zeitigen, könnte sich Gorbatschow endgültig von seinem Parteiamt trennen. Schon jetzt sieht der Entwurf eine Entlastung des Parteichefs durch zwei Stellvertreter vor. Doch noch ist der Zeitpunkt nicht reif. Denn, so Gorbatschow, damit in einer „Übergangsperiode“ nicht „zwei Zentren“ entstünden, sei es nötig, die Personalunion zu wahren. Noch sind die Konservativen nicht geschlagen.
Klaus-Helge Donath
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