MEINE GROSSMUTTER...

■ ... meine Mutter und Ich - Berliner Generationengeschichte von Sophia Ferdinand

Meine Großmutter war sicherlich darauf aus, jemand zu werden. 1.

Sie erzählte manchmal von ihren Schwestern, Olga und Martha, von denen sich eine verheiratet hatte und auch einen Sohn bekam, Fritzchen, und die andere kriegte wohl keinen ab. Beide sollte ich mir kümmerlich vorstellen, mit viel schmutziger Wäsche um die Ohren, vom Kleinkram zugedeckt und in eben solchen Sackgassen endend.

Von ihrem Vater bleibt mir nur das vage Bild eines eleganten Gewinners, der manchmal Geschenke mit nach Hause brachte und auf seine schöne mittlere Tochter stolz war. Es war 1898, als sie geboren wurde. Als sie dann irgendwann mit der Schule fertig war, fünfzehn- oder sechzehnjährig, schien es der Familie gänzlich abwegig, daß sie Hebamme lernen wollte. Sie ging ins Büro, das war keine große Frage, und zählte ellenlange Zahlenreihen zusammen. Sie konnte das gut, und es machte ihr Freude. Als einzige - und sie blieb immer die einzige, schließlich die allereinzigste - sammelte sie Taschentücher mit Klöppelspitzenumrandung und bewahrte diese Kostbarkeiten für sich in einem Winkel, in dem es frisch, ordentlich und sauber war.

Die Schönste war sie ganz gewiß und hat auch kein Geheimnis daraus gemacht. Sie erzählte jedem, der fragte: Grete, wo hast Du nur diese Pfirsichhaut her? daß sie stundenlang nach dem Regen oder im leichten Nieselwetter durch die dampfenden, feucht aufgeladenen Straßen Berlins lief, das machte den Teint so frisch und die Wangen rosig und blühend. Ihrem goldblonden Haar brachte die feuchte Natur sich kräuselndes Leben, 100 Bürstenstriche täglich war das Prinzip, sie trug es aufgesteckt oder zu einem Pferdeschwanz hochgebunden.

Es muß betörend geleuchtet haben, denn es dauerte nicht lange, bis sich in ihrer Arbeitswelt ein Verehrer fand, der ihr heimlich Pralines sandte und schließlich riesige Rosensträuße. Das wurde dann Onkel Paul; er verwöhnte sie lange, bis es so weit war, nannte sie mit verzücktesten Worten und ließ die Kette seiner Geschenke einfach nicht abreißen. Sie heiratete ihn und begann ihr Berliner Leben.

Die Zeit war duftend und frisch. Die junge Frau ließ die Sonne auf den Kurfürstendamm scheinen, trug elegantes Schuhwerk und fühlte sich darin wohl. Irgendwann gegen Abend kam der Gatte nach Hause, oder sie traf ihn in einem Cafe, es waren die Delikatessen, aus denen das Leben bestand.

Onkel Paul, so ist sein einziger Name, bettete sie in Liebenswürdigkeiten, sie sammelte Kristall, Porzellan, Schmuck und war vornehm. Jung und frei hüpfte sie in der Wohnung umher, wusch sich völlig ungeniert, verschämt war sie ja nie.

Warum sie keine Kinder bekam, erklärte sie mit einem Leiden, das Onkel Paul hatte, er war ja ein älterer Herr, steif und vielleicht dickbäuchig, der seinem Prinzeßchen mit goldenem Reif an der Fessel allen Auslauf der Welt gönnte. Ganz im Anfang hat er sie vielleicht einmal berührt. 2.

Eines Tages mußte ihm einiges gesagt werden, was sie nicht schaffte, und die Zeit drängte sehr. Vieles war geschehen. Arnfried war ihr im Schwimmbad begegnet, und ihn hat sie immer wieder getroffen. Sie hat wohl angesichts dieser Weichenstellung nein zu sagen versucht, aber er wußte genau, was er wollte und war ein Mann mit Charme. Sie eine dreißigjährige Frau.

Er war dann findig und wußte einen Doktor, der alles wieder in Ordnung brachte. Onkel Paul merkte nichts. Er merkte auch ein Jahr später nichts, als der Bauch wirklich wuchs. Gütig wie Onkel Paul war, gab es kein böses Wort bei der Scheidung. Sie war schon im neunten Monat.

Unangenehm blieb, daß sich Arnfried, er war arbeitslos, in den Betrieb ihres Vaters einzuwinden versuchte und sie noch irgendeine gerichtliche Aussage machen mußte. Das wurde ihr mit der Zeit typisch für seine gesamte Sippe. Er war Händler von verschwommener Sorte und bildete mit Schwester und Bruder ein merkwürdiges Pack.

Das Kind war ein Sohn, ein ganz entzückender Sohn, vielleicht der schönste Sohn der Welt. Ihm folgte bald ein Mädchen. Man zwang sie, bei dessen Geburt Rizinusöl zu nehmen, verdammte sie zu diesem Ekel. Sie schrie, und mit Abscheu für alle Anwesenden gebar sie das Kind.

Berlin, voller Menschen ohne Verständnis und Hilfe, eine Stadt kalter Schultern. 3.

Sie wußte genau, was Kinder brauchen: ließ sie bei jedem Wetter eine Stunde an der frischen Luft. Im Winter wurden ihnen die Fäuste blau, sie trampelten von einem Fuß auf den anderen, weil die Schuhe zu dünn waren und die Luft zu kalt. Außerdem hatten Kinder keine Kopfschmerzen, Kinder sagten nie „doch“, Kinder hatten keine Frisuren, davon konnte nicht die Rede sein.

Ihr Sohn war ein blondgelocktes Prachtstück, überall bewundert und geliebt, frech und siegreich. Die Tochter auf Familienfotos ängstlich-gehorsam lächelnd. Von ihr selbst blieben wenige Fotos, eine strenge Eleganz, die um Freundlichkeit bemüht ist und neben der widerwärtigen Schwägerin ausharren muß. Zum Beweis der Verdammungswürdigkeit jener Frau gibt es eine Geschichte, in der die Schwägerin es ableugnet, ein Verhältnis mit dem Mann zu haben, von dessen Frau sie auf „Ehre und Gewissen“ befragt wurde; bewiesen war es längst. Meine Großmutter mochte einfach solche Menschen nicht.

Nein, meine Großmutter verirrte sich in den Umständen nicht. Sie trat aus der Kirche aus, weil Hitler und der Mann es so wollten, trat später wieder ein und wurde meine Patin. Es gab wenig, der Mann war weiterhin findig, und sie sparte sich alles vom Brot ab.

Wieder mußte etwas gefunden werden, sie war noch einmal schwanger; bekam etwas zum Einnehmen, nachdem „Herumhüpfen“ nicht geholfen hatte. Als sie sich mit Kindern und Gepäck zu Verwandten geschleppt hatte, ging es dort los, sie ist fast verblutet. In einem Holzklo verlor sie das ungewollte Fleischgebilde und blutete dann tagelang die Matratze durch. Es war Krieg in Berlin, die Kinder wurden in Heime verschickt für je ein halbes Jahr oder länger, das Mädchen bekam eine Holzpuppe von zu Hause, aber keine weiche Babypuppe, es gab nichts.

Man verließ Berlin aus Angst vor Bomben, wurde als Flüchtling aufgenommen und angesiedelt in ländlicher Gegend.

Dort hielt sich über Jahre die Erinnerung an die vornehme Dame, die mit Vehemenz und so viel kluger Planung den Garten angelegt hatte und der man gern etwas schenkte, der Dame aus der Stadt. Sie trug ihren Kopf deutlich über den anderen. Der Garten mußte hergeben, was er konnte, und sie brachte alle Glieder in Bewegung, arbeitete gern. Sie blieb für sich, die Kinder im Dorf, der Mann unterwegs, Arbeit zu suchen und kleine Verbesserungen. Das Leben ging weiter. 4.

Noch einmal umgesiedelt und eingerichtet, angeschafft und häuslich: eine Wohnung am Eselsdamm mit Hof, Schuppen und Keller.

Mein Großvater machte eine Wäschegroßhandlung auf, seine Frau saß nächtelang an der Nähmaschine, Laken säumend, einfassend, abpaspelnd. Viel Arbeit und kein Dank, so wird es benannt; sie hatte ja Nähen gelernt in Berlin, war in eine feinste Nähstube zu abendlichen Kursen gegangen, wo es sich für Stunden nur um eine Kappnaht handelte. Dieser Horizont wurde nie mehr abgeschritten, sie arbeitete jetzt „stundenlang“.

Es wurde häuslich gelebt. War die Feiertagsgans schon am Vorabend fertig und schluckte mit ihrem Duft eine trübe Nachmittagsstimmung, brach Arnfried das Eisen und man aß.

Als Mann ließ er nichts zu wünschen übrig, hat sie einmal gesagt. Charmant, bekunden die Überlieferungen, verschmitzt aus sich heraus lächelnd die Fotografien.

Für seine Tochter hatte er eine Menge übrig, kniff sie in den Hintern, küßte sie, bis sie quiekte, mußte mit seiner stürmischen Begeisterung in bestimmten Jahren Halt machen, und als sie einmal mit neunzehn zwei Stunden später als vorhergesagt zu Hause erschien, setzte es rechts und links eine Ohrfeige, ehe ein Wort gesagt sein konnte. Pardon gab es nicht, das schien gut so.

Der Sohn wurde schnell jung, war hurtig und rannte weg, kam wieder mit Frau und Kind, wanderte nach Amerika aus. Er sandte noch Fotos, aus militärischem Schmiß heraus lächelnd, zukunftswillig. Der jungen Frau wurde es schließlich wegen seiner Abwesenheit auf See zu einsam und zu ärmlich, sie gebar ihm noch eine Tochter, sonst hätte er sie nicht aus dem Krankenhaus abgeholt, dann trennte man sich.

Meinen Großeltern blieb also ihre Tochter. Mit siebzehn durfte sie ihr Haar ondulieren lassen, sie wurde bei vielen Ausflügen in die Landschaft fotografiert, mal öde-mißmutig dreinschauend und dem Papa doch die Hand auf die Schulter gelegt, mal den Glockenrock kreisrund um sich herum geschweift, als ursprüngliches Vorbild die Jahrmarktpuppe. Sie war gepflegt und hübsch, hielt die Hand in der Hüfte, den Kopf seitlich überlegend gebeugt, blickte, wohin sie sie durfte zunehmend von unten herauf lächelnd. 5.

Von den Geschichten zu dieser Zeit wußte mir die Großmutter mehr zu berichten als die Mutter. Wie viele junge Männer geklingelt haben, wie das Mädchen die Nächte beim Karneval durchgemacht hat und, obwohl hundeelend, doch noch hingegangen ist. Die verpaßten Chancen, verschiedene Verehrer, wie die Geschichten angefangen haben und welcher Flirt zu welchem Urlaubsfoto gehört.

Sie wußte auch, daß ihre Tochter jenen Mann ja eigentlich gar nicht gewollt hat, der eines Tages wieder vor der Tür stand: in kurzen Hosen und durchgeschwitzt nach einer langen Fahrradtour, ein ziemlich unschöner Anblick. Die Großmutter selbst mußte ihn hereinbitten, mit ihm Tee trinken - sie war noch nicht einmal richtig angezogen! - weil es dem Fräulein Tochter plötzlich beliebte, Geschirr zu spülen, was sie sonst nie tat. Sie habe der Tochter ziemlich zu dem Mann zureden müssen, denn er war ein ordentlicher Junge aus Norddeutschland und würde noch viel ordentlicher werden. Ihre Tochter kam also aus behüteten Verhältnissen, sonst hätte sie dieser junge Mann wohl nicht gewollt; sie bekam zu Hause alles, was sie brauchte, nur Büstenhalter sollte sie von ihrem eigenen Geld kaufen. Die Tochter war ja nicht einmal willig, wenn die Schneiderin kam, bei der Anprobe mit Geduld und freundlichem Gesicht auszuharren. Sie bekam Kleider aus guten Stoffen, teure Mäntel auf Reisen gekauft und ist also ein sehr verwöhntes Mädchen gewesen.

Die Tochter lebte für ein Geheimnis, von dem sie zu niemandem sprach. Mit der Heirat ließ sie sich von den Eltern wegverpflanzen, in der ersten Zeit mußte sie dort in Norddeutschland für die Schwiegermutter täglich Geschirr spülen, bis es eigene vier Wände und einen offeneren Himmel gab, Unbesorgtheit und Vorfreude. Ihr junges Blut spiegelte sich dann in einem Strahlen von genauso blauen Augen und weißen Häärchen - die ganze Welt noch einmal. Ich wurde nach meiner Großmutter benannt, und für sie stand ich von Anfang an für alles Bessere. Sogar Locken bekam ich, als meine Großmutter mich bürstete mit der allerfeinsten Babybürste, so viele Bürstenstriche täglich wie möglich.

Meine Mutter bekam das zweite Kind, ein Mädchen von dunklerem Haar und anderem Temperament. Meine Großmutter hatte sich jedoch schon einmal wiedergefunden, hatte sich selbst in mir beschrieben und mit allen Hoffnungen niedergelassen. Von Anfang an lehnte sie meine Schwester ab und machte aus uns Goldmarie und Pechmarie, die Gute und die Schlechte. Da war jedes Schreien meiner Schwester als Säugling ein Beweis für ihre Verkehrtheit, später ein Appetit auf eine Brezel, die ich in der Hand hielt, eine typische Gier. Sie fand an ihr alles, was sie selbst nicht war - sie habe keine Fehler, sagte sie von sich - und wies meiner Schwester alles nach. Als meine Schwester einmal Besuch von einem Freund hatte und aufgeschreckt mit „rotem Kopf“ angelaufen kam, hatte sie es schwarz auf weiß.

Mir bleiben aus den frühen Jahren Erzählungen, wie sie damals meinen Fuß mit einer Hand umfassen konnte, so klein war er, welchen Bekannten ich das Auto vollgespuckt habe und wie ich im Allgäu unbedingt einen Hut und einen Spazierstock haben wollte und immer „Kuhschlucke“ trank von der fetten Milch, „Rollwurst“ aß und tatsächlich etwas dicker wurde. So aufgebessert wurde ich abgeliefert in die Zustände, die bei uns zu Hause herrschten.

Als das dritte Kind kam, hatte sich meine Großmutter so weit in mir stabilisiert, daß sie diese Schwester wieder liebgewinnen konnte. Auch sie brachte sie in Form, gewöhnte ihr das Breiessen an (was sie allerdings schnell wieder verlernt hat) und erzählte ihrer Tochter, daß ihr Muttersein nichts als Affenliebe wäre.

Die Geschichte geht weiter, es wurde ein Junge geboren, dem sie skeptisch gegenüber stand wie auch meinem Vater, beiden aber mit Disziplin. Mein Bruder mußte immer ermahnt werden, auch meiner Großmutter Guten Tag zu sagen und die Hand zu geben, von meiner nächstjüngeren Schwester erwartete das niemand mehr. Meine Großmutter stand noch dafür ein, daß er das größte Stück Fleisch bei Tisch bekam, wollte, daß er jeden Tag ein Kotelett aß, denn er mußte erst ein richtiger Junge werden. Eine Memme nannte sie ihn für sein häufiges Weinen, und sein Platz auf dem Schoß meiner Mutter fiel wieder in die Kategorie Affenliebe.

Für das fünfte Kind war sie wieder ganz da. Es gab das Überraschungsfach in ihrer Küche mit Schokoladenweihnachtsmännern oder -osterhasen, ihre Handtasche hatte sich stets rechtzeitig auf wühlende Kinderhände vorbereitet, und sie setzte keine Grenze. 6.

Ihr Mann starb viele Jahre vor ihr, Herzschlag, er hatte sich mit Zigarren und starkem Kaffee in die Enge getrieben. Wozu all das noch länger mitmachen, hatte er zu seinem täglichen Leben gesagt.

Unsere Familie war umgesiedelt, die Oma kam hinterher und half, was sie nur konnte. Anfangs waren es durchnähte Nächte, eine Felljacke für mich, für die der Stoff unmöglich reichen konnte, aber dazu gebracht wurde. Ihr war kein Auge, das sie sich verderben konnte, zu schade. Sie putzte und kochte in unserem kinderreichen, neugebauten Haus, warf sich dazwischen, wenn meine Mutter mich für mein unaufgeräumtes Zimmer verprügeln wollte, und ließ sich an unserer Sauwirtschaft gründlich aus.

Mit dem Bus fuhr sie zurück in ihre eigene Behausung, wo es geordnet und flauschig war. Mit dem Wagen ließ sie sich höchst ungern bringen, denn sie traute nur den wenigsten das Autofahren zu.

Sie hatte immer noch flotte Beine, einen flotten Schritt: das ist es, was mein Vater von ihr als ersten Eindruck behielt, er sah diese Waden um eine Ecke blitzen, und es konnte nur sie gewesen sein. Sie behielt auch ihre weichen, warmen Hände, das Leben lang mit diesen großen braunen Punkten darauf und einem absurden grünen Ring. In ihrer Wohnung gab es einen Seehund aus Porzellan, der war genauso samten wie Omas Hände, anmutig und rund.

Später man sie noch einmal pro Woche zu uns, setzte sich ins Wohnzimmer und las Zeitschriften, bis uns das schlechte Gewissen zu ihr trieb. 7.

Sie trat auf mit elegantem Schuhwerk, nur in Qualität gekleidet, mal in einem gerüschten und gekrausten blau -weißen Sommerkleid, setzte sich auf die Terrasse, stopfte Wäsche und ließ uns ihren Rücken bearbeiten. Es gab dort einen sehr ergiebigen Pickel, mit dem unser Großvater auch schon seine Wonne gehabt haben muß. Da war ein Lachen ohne Scham und setzte sich fort in Gedanken ohne Scham, Fragen und Witzen.

Ein akneversehener Freund von mir hieß bei ihr Streuselkuchen, sie sagte Guten Appetit! und ließ nicht locker. Was sollte der aber denken, wenn er zu mir ins Zimmer kam, und mein Bett war nicht gemacht?! Sie redete mir ins Gewissen, stellte sich immer zu viel auf einmal vor, aber sie tat noch nicht weh. Doch es wurde Thema, und das war schlimm. Jeder Synthetikpullover wurde beim Mittagessen besprochen, und die Geschichten von meiner Mutter in dem Alter bildeten das moralische Panorama als Ehrenansporn. So erfand ich einmal, daß mich sozusagen ein stattlicher, um einiges älterer Vetter geküßt hatte, das imponierte ihr sehr.

Meine Mutter kämpfte für Töchter aus gutem Hause, erzählte von dem gewissen Ruf, den jedes junge Mädchen hätte, weil es manche Mädchen gäbe, die nur auf Abenteuer aus wären, und daß sich die seelische Empfindungsfähigkeit verringern würde, je öfter es eine täte. Auch, daß mein Vater deshalb beruflich so erfolgreich geworden sei, weil er so lange enthaltsam gelebt habe; als Sorge wurde das schließlich bei meinem Bruder akut, sie sagte aber nichts.

Ich war also ausgestattet mit Warnungen, was meine Mutter betraf. Später entdeckte ich den Ursprung dieser Sätze in einer Tante, die auf der bürgerlichen Seite stand und meiner Mutter viele Leitfäden aufgedrängt hatte.

Meine Großmutter dagegen erzählte von ihren Abtreibungen und wollte nicht, daß dies an ihre Tochter weiterginge. Meine Mutte konnte ihre intimen Wahrheiten nicht für sich behalten, meine Schwester und ich waren ihr niemand anders als sie selbst, und da wir alles von ihr wußten, glaubte sie sich im Recht, dasselbe von uns zu erwarten. Diskretion gab es nicht. In einem Hotelbett streckte sie einmal die Hand nach mir aus, faßte meinen Busen, ich schrie und wurde ausgelacht.

„Ist ja doch alles mein“, sagte meine Mutter, wenn wir uns im Badezimmer genierten und wenn uns ihre Zärtlichkeiten zuviel wurden. Sie war verletzt, daß ich nicht das „Vertrauen“ hatte, meine eigensten Erlebnisse mit ihr zu teilen, und daß sie mit ihrer Vorstellung, wir sind doch eine Familie und haben keine Geheimnisse voreinander, bei mir auf der Strecke blieb. Sie hatte keine Geheimnisse, denn wir durften ihre Post lesen, und sie nahm sich dasselbe Recht. Meine erste frauenärztliche Komplikation erzählte ich meiner Großmutter, denn es war meine Angelegenheit. Zurückgesetzt und verliererhaft-verlegen sah meine Mutter aus, als es bei ihr gelandet war. 8.

Mit achtzig Jahren fuhr meine Großmutter zum ersten Mal mit dem Schiff nach Amerika. Von ihrem Sohn blieben keine Verherrlichungen, er gab ihr nicht einmal genug zu essen, sonst aber kam sie in die richtigen Kreise. Ihre Enkelkinder waren wild nach ihr, waren ans Verwöhntwerden noch nicht so gewöhnt, sie sahen fern während der Schularbeiten und waren immer freundlich vergnügt. Die Schwestern der neuen Schwiegertochter waren Mannequins, schöne, schlanke Gestalten, die meine Großmutter verzaubert hatten, sie vom Bahnhof mit einem rosaroten Nelkenstrauß im Arm abholten, wo jede Nelke bei Stromanschluß selbst glühen konnte, und ihr Stoff schenkten aus fließendem Glamour. Sie wurde noch einmal jung auf andere Art. Nicht mehr Elfenbeinohrringe zur weißen Kostümbluse oder der treffsichere Geschmack von beigem Wollstoff auf dem Haar - es war nun Jersey, warum eigentlich nicht, die Farben waren außer Rand und Band, ein knallgrüner Tüllhut bei meiner Konfirmation in der Kirche.

Dorthin kam sie nur mir zuliebe und anstandshalber und nahm keine Rücksicht auf die pikierten Blicke der Verwandtschaft. Sie saß bei solchen Familienfeiern meist für sich, lächelte bemüht und unterhielt sich wenig. Unter den Achtzigjährigen war sie dort die einzige mit blondem Haar und Lippenstift, war groß und etwas stämmig. Sie fühlte sich geduldet, haßte einige, für die Gutmeinenden und hinterher Ausgelachten ergriff sie Partei.

Sie ging nicht mit den Regeln. Es galt das Dezente, das vollständige Rosenthal-Service mit passenden Servietten, Tischtücher mit selbstgefertigter Klöppelspitzeneinlage, geputztes Silber und Schichttorten nach traditionellem Familienrezept in der Welt, für die sich ihre Tochter nun bemühte.

Meine Großmutter mochte meinen Vater nicht. Sie bewahrte die Form aber so sehr, daß sie jede empfundene Verunsicherung und Unbehaglichkeit nur zu direkten Vorwürfen gegen meine Mutter bog.

9.

Sie habe ihr ganzes Leben lang alles, was sie hatte, für andere gegeben und selbst nie etwas bekommen. Nun wolle sie auch nichts mehr. Ausdrücklich wünschte sie sich zu Weichnachten nichts. Zunächst blieb sie Weihnachten nur der Kirche fern. Den geliebten Enkeln machte sie gern Geschenke, ohne Grenzen üppig, den ungeliebten Enkeln dosiert, eine Tafel Schokolade. Sie ging nicht so sehr gegen sich an, daß sie sich zur Fröhlichkeit zwang, und trieb immer weniger Aufwand für die Scheinheiligkeit. Zu zwei Weihnachtsfesten trug sie alltägliche Kleidung, nicht um zu beleidigen, und blieb die letzten Male Weihnachten allein.

Sie schlief immer bei sich, die Betten seien ihr bei uns zu unbequem, überhaupt sei es zu laut. Sie mochte meinen Vater nicht so in der Nähe haben. Von ihm im Auto gefahren zu werden, überlebte sie immer nur schnaufend. So war sie wieder bei sich, eine Neubauwohnung im Hochhaus, 11. Stock. An der Wand hing ein Spruch von Wilhelm Busch: „Wer einsam ist, der hat es gut, weil niemand ist, der ihm was tut.“

Man mußte mit dem Fahrstuhl hinauffahren, das machte ihr nichts aus, sie konnte dann auch mit dem Flugzeug nach Amerika fliegen. Wir Kinder sind gern alle Treppen rauf und runter gerannt, haben von oben auf die Straße gespuckt, in den Müllschlucker geguckt und uns Gruselmärchen von Kindern, die da reingeschmissen werden, erzählt.

Im Haus fand meine Großmutter Bekanntschaften, mit denen sie redete und auf dem Friedhof spazieren ging. Eine Frau arbeitete im Kaufhaus in der Stoffabteilung, sie war lebhaft, sprach laut, mit gewitzter Klappe, nämlich eine Berlinerin, mit der sich meine Großmutter ganz schön amüsierte. Genau das war dann das Handicap: meine Großmutter fing an, sie ordinär zu finden, und wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Unten im ersten Stock wohnte Frau Fritz, die war ein Witz, der länger anhielt. Sie machte sich in die Hose, erzählte davon stundenlang, konnte nur noch Babysprache sprechen und fummelte sich mit Kleinkram die Tage weg. Meiner Großmutter gab sie „Bücher“, das waren 'Frau-im-Spiegel'-Zeitschriften, die wir auch ziemlich gerne lasen. Meine Großmutter ging nach dem Arztbesuch bei ihr vorbei, hörte sich am Telefon ihre Geschichten an und gab sie an uns weiter. Dieses Welt hatte sie hinter sich gelassen und war noch sehr in ihrem Element dabei.

Eine Amerikanerin tat sich auf, die über ihr wohnte und sogar vormittags Sekt trank. Mit der konnte sie sich duzen, es gab ein Küßchen beim Kommen und Gehen, die Frau trug mit siebzig Jahren Hosenanzüge und Silberpantoffeln und hatte gerade wieder geheiratet. Sogar ihr Enkel war von besonderer Sorte, ich sollte ihn kennenlernen, und es schuf ein anhaltendes Gesprächsthema, daß ich ihn gleich duzte.

So gab es einige Bekannte. Sie wunderte sich, daß sie sich nun einsam fühlte, wo sie sich so nach Ruhe gesehnt hatte. Außer Einkaufsgängen und Arztbesuchen stand wenig auf ihrem Programm: Sie selbst hätte sich nicht einmal ein Telefon angeschafft, der Fernseher wurde tatsächlich nie repariert. Sie wünschte sich von mir jede Woche eine Postkarte, nur ein kurzer Gruß, das war mir aber nicht möglich. Wenn ich müde und zu nichts anderem mehr fähig war, schrieb ich ihr von Dingen, die ihr vielleicht nahe waren: mein Ruderkurs, Spaziergänge mit Freunden und Kochexperimente. Sie versicherte mir, daß sie ja an allem interessiert sei. Warum ich so weit weg studieren wollte, verstand sie nie und plädierte jedes Mal wieder für eine Lehrerinnen-Ausbildung am Ort, damit ich in ihrer Nähe bliebe.

Sie war allein im Ritual ihrer häusliche DInge und konnte sich nicht damit ausfüllen, ihre Pelzmäntel überarbeiten zu lassen. Sie durchforstete Büchereien und war enttäuscht, wenn diese Bücher über Berlin nichts hergaben. Reisen jedoch blieben. Da wollte sie leben, solange sie es tat: Pellworm , Bad Kreuznach, Busreisen in die holländische Tulpenblüte, sie blieb den Orten auf Jahre treu. Von Kurschatten hielt sie nichts, wenn jemand aber mit ihr scherzte, drückte sie beide Augen für den „Ollen“ zu. Gern ließ sie sich auch auf ein Entdeckungsspiel ein: „Was, Sie sind auch aus Berlin? Na, das hätte ich mir fast gedacht. Also ich war nach dem Krieg nie wieder da, das will ich mir nicht mit ansehen. Keine zehn Pferde kriegen mich da hin!“

Ein versiegeltes Kapitel, an dem sie herumschnüffelte, aber sie brach das Siegel nicht.

Krank im Bett wurde sie einmal von meiner Freundin und mir überrascht. Verdrießlich und verlegen schleppte sie sich zur Tür, überlegte nicht lange und steckte sich das trockene, auf dem Tisch herumliegende Gebiß in den Mund. Wir sprachen inzwischen übers Wattwandern, und sie ließ sich über alles hinweg beflügeln. Sonnenuntergänge, Tiedenspannung, der Charakter der Jahreszeiten, barfuß durchs Watt und die Salzluft - hier kam sie zu allem, was sie wolte, ihre Haut war rosig und frisch, man sagte es ihr oft, aber sie wußte es auch so. Mit kräftigen Schritten wanderte sie bis zum Abend, konnte gar nicht müde werden und brauchte auch keine Schlaftabletten.

Meine Besuche bei ihr waren selten, eine Pflicht, der ich nachkam, wenn ich in der Stadt meine Familie besuchte.

Meine Großmutter war so ausweglos verrant in meine Zukunft. Beim Hochzeitsfoto meiner amerikanischen Cousine hieß es: „Das könntest Du auch schon haben.“ Als Caroline von Monaco achtzehn wurde und durch die Illustrierten glänzte, war ich gerade sechzehn, der Ähnlichkeit gab es anscheinend viele, und ich wurde mein Vorbild nicht mehr los. Ich war meiner Großmutter immer zu dünn, „bei Deiner Größte!“, und hätte mir unbedingt eine Dauerwelle machen lassen sollen, „nur die Spitzen einknicken“. Jahre nach einer abgebrochenen Freundschaft von mir kam sie noch nicht darüber hinweg: Ich könnte doch bald Arztfrau sein; oder jemand anders kriegte mich erst rum und dann wollte er mich nicht heiraten. Den hat sie nicht leiden können, denn er widersprach ihr in irgendeiner Sache, er hat es eben außerdem versäumt, mich zu heiraten.

Meine jüngere Schwester träumt noch von ihren Drohungen, was

alles geschehen kann, wenn ein Mädchen verkehrt lebt. „Und nicht Mama erzählen“ sollte sie, was sie von der Großmutter in sehr jungem Alter an Erlebnissen erfuhr. Dieses „Oma besuchen Gehen“ war eine Last, die meiner Mutter am schwersten wurde, denn ihr wurde jedes Handeln durchgestrichen und eine Beweislogik für ihre vermeintliche Schlechtigkeit aufgestellt. Sogar bestohlen fand sich mein Großmutter von ihrer Tochter, ein schwarzer Rock fehlte, der nach ein paar Jahren plötzlich wieder da war. Auch mir wollte meine Großmutter die negativen Seiten ihrer Tochter vor Augen führen und ließ sich nicht von meinen Tränen bremsen. Sie hatte immer nur für andere gegeben, und nun erntete sie nur Undank... 10.

In den letzten Jahren versuchte meine Großmutter öfter, zu beten. Es ging einfach nicht. Sie lag im Bett, sprach die Sätze vor sich hin, das wurde ihr dann so albern, daß sie wieder aufhörte. Wenn sie morgens um vier Uhr aufwachte und der Tag noch lange nicht so weit war, frühstückte sie, sah oft auf die Uhr, nahm ein heißes Bad. Pünktlich früh morgens war sie beim Arzt, Heldenqualen, die gegen unser Geschlampe anstanden.

Ihr Tod kam plötzlich, nach einer Woche Krankenhaus. Das hatte mir nichts gesagt, ich konnte es nicht verstehen und fuhr zum Friedhof, wo mich zur verabredeten Stunde jemand einließ. Sein schwarzes Jacket sollte mir durch Würde Beruhigung anbieten, es war Vormittag an einem verregneten Winterrag, mein Fahrrad blieb am Tor stehen, auch mit Parka und Jeans wurde aus mir Trauergesellschaft gemacht. Da war ich aber schließlich allein gelassen, stand in einem engen Flur, an dem ein Fenster, eine Kabine, beleuchtet waren. Ich habe Oma schon erkannt, ihre blonden Haare und ihre Nase stimmten, die spitz gefalteten Hände waren Unfug und der eingefallene Mund von jemand anders, Ausgeliefert den Leuten, mit denen sie nie etwas zu tun haben wollte, aber diese Leute haben keine Schwachstelle bei ihr erwischt.

Es gab außerdem Puffbeleuchtung, vielleicht sollte man das anders ausdrücken, drapierte Eleganz mit Rotlicht. Ich war dort alleine, und im Regen auf dem Fahrrad war alles beim alten. Ich fuhr zu ihrer Wohnung, wollte dort alleine sein und hatte meine Mutter auf später bestellt. Ihr Zimmer war aufgeräumt, der Porzellanseehund auf dem Radio, ich habe auch im Badezimmer und in der Küche nachgesehen, alles beim alten, meine Mutter kam, wir gingen.

Es gab eine Beerdigung in der Wald-Friedhofskapelle, meine Großmutter hatte die Pastorin zickig und kühl gefunden, diese sprach nun von der besonderen Fröhlichkeit meiner Großmutter, von ihrer Güte und Hilfsbereitschaft. Die saubere Trennung zwischem mir, den Worten und dem Überraschungstheater - der Sarg kam plötzlich per Fahrstuhl aus der Tiefe in den Raum geschwebt, und statt Orgel erklang ein Synthesizer - die Trennung brach erst aus, als alles zu Ende war. Als letzte saß ich und heulte.

Beim Herausgehen sah ich eine Freundin meiner Mutter, die ihr mit tief aufgerissenen Augen Beileid sagte, einige Verwandte waren trotz des schlechten Wetters gekommen und haben in der Kapelle furchtbar gefroren.

Ein halbes Jahr später ging ich wieder zum Friedhof, wollte sehen, ob mir meine Großmutter anders begegnen würde. Bei der Beerdigung waren wir von der Kapelle aus lange geradeaus gegangen, dann rechts. Ich habe das Grab nicht gefunden. Es war ein großer, weiter Friedhof. Ich ging, fuhr mit dem Fahrrad über die Eisenbahnbrücke und weiter.

Sophia Ferdinand