Adelt Arbeit?

■ Ist es wirklich nötig zu arbeiten, um ein wichtiges Mitglied der Gesellschaft zu sein? Der Mythos der Arbeit hält sich hartnäckig und das Recht auf Faulheit wird dabei komplett vernachlässigt. Eine Hymne auf die Arbeitslosigkeit

von

EBERHARD SEIDEL-PIELEN.

rbeitet, arbeitet, vermehrt den Nationalreichtum und damit euer persönliches Elend. Arbeitet, arbeitet, um immer ärmer zu werden, noch mehr Ursache zu haben zu arbeiten und elend zu sein.“ Bereits vor mehr als hundert Jahren erkannte Paul Lafargue, Literat und Sozialist, die Unsinnigkeit der Forderung: „Recht auf Arbeit“. Der Schwiegersohn Karl Marx‘ hielt sich an die Losung Lessings: „Laßt uns faul in allen Sachen, nur nicht faul zu Lieb‘ und Wein, nur nicht faul zur Faulheit sein.“

Lafargue zum Trotz beherrscht eine seltsame Sucht unser Leben. Arbeit, so scheint es, ist, was den Menschen glücklich macht, ihn adelt und krönt. Gewerkschaften und Parteien fordern unisono: Arbeit für alle. Und sie setzen Gott und die Welt in Bewegung, möglichst viele in den Genuß kommen zu lassen, an Fließbändern abzustumpfen, vor Bildschirmen zu verblöden und sich durch schwere Lasten die Wirbelsäule zu zerstören.

Dabei ist nicht abzustreiten, daß Arbeit die Ursache des geistigen Verkommens ist. Ein kurzer Blick auf die Freizeitgestaltung der werktätigen Bevölkerung erschließt uns die Trostlosigkeit des erfüllten Erwerbslebens. Arbeit zerstört die Gesundheit, die Umwelt und die Familien. Sie ist Ursache der seelischen und der körperlichen Verunstaltungen. Man vergleiche nur das abgearbeitete und verbitterte Gesicht der Kassiererin bei Aldi mit den entspannten Blicken der Müßiggängerin, die nach einem langen Winter in Gomera nach Berlin zurückkehrt.

Obgleich die Folgeerscheinungen der Arbeit bekannt sind, blasen Unternehmensverbände, Handwerkskammern und Christlich -Soziale erneut zur Hatz auf das Heer der Arbeitslosen und Müßiggänger. Eine anhaltende Unverschämtheit, der nicht einmal die Gewerkschaften entschieden entgegentreten. Sie sollten es besser wissen. Denn nach wie vor gilt, frei nach Brecht: Wer war es, der die Pyramiden von Gizeh, die Atomkraftwerke, abgestorbenen Flüsse und stinkenden Autokolonnen erschuf? Wer war es, der die schnuckeligen Panzer, vergifteten Lebensmittel und den Pseudo-Krupp schuf? Arbeiter waren es, und ihre unstillbare Sehnsucht nach Arbeit.

s ist an der Zeit, den Mythos der Arbeit in die Schmuddelecke zu stellen, in die er gehört, um endlich das Positive der Massenarbeitslosigkeit ins rechte Licht der Öffentlichkeit zu rücken.

Arbeitslose, Müßiggänger und Faule sind eine der wenigen Hoffnungsschimmer in unserer Zeit. Sie geben der Gesellschaft mehr, als sie von ihr in Form bescheidener Sozialhilfe und zu knapp bemessenen Arbeitslosengeldes zurückbekommen. Arbeitslosigkeit ist ein gesellschaftlicher Produktivitätsfaktor, der in seiner Dimension noch kaum abzusehen ist. Einige Beispiele:

Arbeitslosigkeit entlastet das Gesundheitssystem, indem

sie die zahlreichen Berufskrankheiten und Invaliditätsfälle reduziert.

Arbeitslosigkeit verringert sinnlose Mobilität und

entlastet die überfüllten Straßen während des Berufsverkehrs, die Grünanlagen an den Wochenenden und die Ferienregionen während der Urlaubssaison.

Arbeitslose bewahren unser kulturelles Erbe.Ihre

eigenverantwortliche souveräne Zeitgestaltung ermöglicht kulturelle Vielfalt wie: Verbesserung des allgemeinen gesellschaftlichen Wohlbefindens durch ausreichend Schlaf und streßfreien Tagesablauf; Auseinandersetzung mit Alten, Kindern und Nachbarn; Besuch von Galerien und Ausstellungen; Rettung der Eßkultur vor der Bedrohung der Fast-Food -Dekadenz; Harmonisierung der gesellschaftlichen Sexualökonomie.

Arbeitslosigkeit schafft Dauerarbeitsplätze. Allein durch

ihre Existenz sind Arbeitslose ein Produktivitätsfaktor in der Gesellschaft, der den Betrieb in den Arbeitsämtern, Sozialämtern, Forschungsinstitutionen und psycho-sozialen Einrichtungen aufrechterhält.

Leider hat sich bislang kaum ein Volkswirtschaftler die Mühe gemacht, die heute geleistete Arbeit einer Kosten -Nutzen-Rechnung zu unterziehen. Er würde sehr schnell zu dem Ergebnis kommen, daß die Arbeit heute mehr schadet, als sie an Sinnvollem einbringt und deshalb Nicht-Arbeit produktiver ist als Arbeit. Was für ein Raubbau an Genußfähigkeit und Zeitsouveränität der Menschen! Obgleich Lafargue schon vor hundert Jahren nachwies: „Drei Stunden Arbeit täglich sind genug. Der Rest eines Arbeitstages wird verschleudert an Überproduktion, an Anhäufung des Reichtums der Fabrikanten, Erschließung neuer unsinniger Absatzmärkte, Rüstung, Krieg und Zerstörung“, kann sich ein Oskar Lafontaine mit der Forderung nach einer 30-Stunden-Woche als radikal gerieren. Nein, es geht nicht mehr um mehr Urlaub, freie Wochenenden und die längeren Phasen der Entspannung, um die Kräfte für erneute, unsinnige und kontraproduktive Arbeit zu mobilisieren. Es geht um das Menschenrecht auf Faulheit.

us Gesagtem ist einsichtig: Arbeitslosen muß mehr Achtung entgegengebracht werden. Ihre gesellschaftliche Anerkennung muß entsprechend ihren Leistungen angehoben werden. Die Realisierung des folgenden Forderungskataloges könnte die soziale Stellung der Arbeitslosen endlich ihrer Bedeutung angleichen:

Neben dem Recht auf Arbeit ist das Recht auf

Arbeitslosigkeit verfassungsrechtlich zu garantieren.

Einen eigenen Etat der Bundesanstalt für Arbeit, der dazu

verwendet wird, die ökologischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und individuellen Vorteile der Arbeitslosigkeit für die Bundesrepublik zu propagieren und das Image der Arbeitslosen aufzubessern.

Ein wesentlicher Punkt ist die Neufassung des

Bruttosozialproduktes. Es geht nicht mehr an, daß eine Kernschmelze im AKW Ohu das Bruttosozialprodukt genauso erhöht wie die Behandlung der Opfer von Ramstein. Nach Berechnungen des Wissenschaftszentrums Berlin sind bereits zehn Prozent des Bruttosozialprodukts Kosten für umweltschädigende Produktion. Wieviel Prozent sich aus der Bekämpfung der physischen und psychischen Folgeprobleme eines außer Kontrolle geratenen Wirtschaftssystems zusammensetzt, ist unbekannt. Deshalb: Erfassung und gesondertes Ausweisen des Beitrages der Arbeitslosigkeit zum Bruttosozialprodukt.

Es ist klar, daß eine gesellschaftliche Aufwertung der

Faulheit und des Müßiggangs seine calvinistisch -puritanischen Gegner quer durch alle gesellschaftlichen Schichten hat. Um so dringender sind Arbeitslosen-Lobbyisten in der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg und in Bonn. Hierfür muß nach neuen Interessenvertretern gesucht werden. Die bestehenden Parteien und Gewerkschaften eignen sich keineswegs für diese Aufgabe. Die SPD hält die Forderung nach einer 30- bis 35-Stunden-Woche bereits für derart revolutionär, daß sie schon wieder Angst vor sich selbst bekommt. Die Grünen haben noch weniger mit Faulheit und Müßiggang im Sinn. Ihnen ist die Ethik des kleinen Handwerkermeisters bereits in Haut und Knochen übergegangen. Und bei denen läuft unter fünfzig Stunden die Woche gar nichts. Die Gewerkschaften? Kann man abhaken. Außer kämpferischer Rhetorik haben sie eh noch nie allzu viel für Arbeitslose übriggehabt. Sie haben in den nächsten Jahren mit der Besitzstandswahrung ihrer Klientel und dem Kampf gegen Oskar L. alle Hände voll zu tun.

Die Hauptgegner bei einer gesellschaftlichen Aufwertung

der Arbeitslosigkeit finden sich nicht in der CDU oder bei den Liberalen, sondern bei dem Rot-Grün zugeneigten Neuen Mittelstand. Hier ist mit erbittertem Widerstand zu rechnen. Die Kriegsgewinnler der Arbeitslosigkeit - Sozialarbeiter, Psychologen, Pädagogen, Verwaltungen, Koordinatoren etc. müssen darauf verpflichtet werden, nur dann aktiv zu werden, wenn dies ausdrücklich von den Arbeitslosen gewünscht wird. Vor allem ist die Legitimation der zahlreichen, von pfiffigen Sozialarbeitern aus dem Boden gestampften Beschäftigungsprojekte zu hinterfragen. Mit dem Mut der Verzweiflung und um den Preis des Untergangs der eigenen Helferidentität definieren sie immer neue Problemgruppen des Arbeitsmarktes. Bei vielen von ihnen bleibt der Eindruck, daß sie sich auch heute noch blindlings an das abgestandene Rezept John Maynard Keynes halten, der vor sechzig Jahren empfahl: Es ist volkswirtschaftlich sinnvoller, wenn Arbeitslose Löcher buddeln, die sie anschließend wieder zuschütten, als sie aus der Wohlfahrt zu ernähren.