DDR-Soziologie in der Krise

Fünfter Kongreß der Wissenschaftler diskutierte über Gestern und Heute / Abrechnung mit der Vergangenheit und Analyse des alten Regimes: Auf dem Weg von der „sozialistischen Ständegesellschaft“ zum „modernen Kapitalismus“ / Neue Gesellschaft gegründet  ■  Aus Ost-Berlin Walter Süß

„Noch nie fand auf deutschem Boden ein Soziologie-Kongreß unter solchen Bedingungen statt“ (Frank Hendrich). Wann je hätten SoziologInnen einen Kongreß über eine Gesellschaft abgehalten, die sich in Selbstauflösung befindet? Aus dieser Situation ergab sich für den V. Soziologiekongreß der DDR, der vom 6. bis zum 8. Februar in Ost-Berlin zusammenkam, eine Fülle von Aufgaben: Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit und eine Standortbestimmung auf schwankendem Boden gehörten ebenso dazu wie die Analyse der gegenwärtigen Veränderungen und ihrer Perspektiven. In dem - kurzfristig veränderten - Generalthema des seit langem geplanten Kongresses, „Soziologie im Prozeß der Erneuerung“, wurden diese Aufgaben viel zu optimistisch umschrieben.

Eröffnet wurde die Veranstaltung mit einem Referat des bisherigen Obersten Soziologen der DDR, Prof. Rudi Weidig. Er war bis vor kurzem Vorsitzender des nunmehr aufgelösten „Rates für soziologische Forschung“. Dessen Aufgabe war es gewesen, Forschungsarbeiten zu initiieren und zu koordinieren, die Beachtung von Tabus durchzusetzen und „einheitliche ideologische Positionen in der Soziologie zu sichern“. Diese „Positionen“ sind restlos diskreditiert, und entsprechend schwer hatte es der Redner. Er bekannte sich zu seiner „Verantwortung“, doch sei es darum gegangen, „bei Einhaltung der Spielregeln mögliche Spielräume zu nutzen“. Dieser „Opportunismus“ sei notwendig gewesen, um das „Überleben der Fachdisziplin“ zu ermöglichen. Der Referent und die von ihm geleitete Institution sei somit „Opfer“ der „Strukturen“, zugleich aber „auch Subjekt“ gewesen. Zu Weidigs persönlicher Rolle in dieser Machtstruktur berichten Kollegen, die seinerzeit in politische Schwierigkeiten geraten waren - so Peter Voigt aus Rostock -, daß er das ihm Mögliche getan habe, um zu helfen, berufliche Existenzen zu retten und wissenschaftliche Freiräume zu erhalten.

In einer Reihe von Referaten (M. Schulz, M. Thomas, K. Muehler) wurde die bis vor kurzem herrschende Ideologie auseinandergenommen. Dieses Unternehmen vermittelte etwas den Eindruck der Leichenfledderei. In der DDR-Soziologie gab es neben der offiziellen Ideologieproduktion selbstverständlich auch früher schon in Einzeldisziplinen seriöse Forschungen, doch Arbeiten, die den heraufziehenden Zusammenbruch vielleicht hätten signalisieren können, waren unterbunden worden. Der Beitrag der Soziologie zu der Herbstrevolution bestand deshalb in einer negativen „Leistung“: In der Unfähigkeit, die Mächtigen rechtzeitig zu warnen.

Welchen Charakter hatte das alte Regime? Unter SoziologInnen ist zu seiner Beschreibung der Begriff des „Feudalismus“ sehr in Mode gekommen. In der Tat gibt es eine Reihe von Phänomenen, die diese Metapher nahelegen: von dem System persönlicher Abhängigkeiten, patrimoniale Kooptationsverfahren, die Existenz von „Ständen“ und regionalen „Fürstentümern“ bis hin zu der Vorliebe der Herrschaften für die Jagd oder den Ausbau Ost-Berlins zur Residenzstadt. Aus diesem Ansatz ergibt sich zudem, daß der „Übergang von einer rückständigen Ständegesellschaft zu einer modernen, kapitalistischen Industriegesellschaft“ (Artur Meier, Humboldt-Universität) als Fortschritt interpretiert werden kann.

Überholte Alternative

Thomas Hanf vom Institut für Soziologie und Sozialpolitik (ISS) in Berlin hat den Ansatz „Ständegesellschaft“ weiterentwickelt. Er betont vor allem die „politische Subordination der Wirtschaftssubjekte“ unter das „Primat der Politik“. Sie führte zu „Entwicklungs- und Strukturlosigkeit wirtschaftlicher und sozialer Reproduktion“. Dadurch kam es zu einer „diffusen Konstitution des Eigentums, irrationalen Distributionsverhältnissen und dem Fehlen gesamtgesellschaftlich konsistenter Handlungsmuster“. Diese Theorie erklärt nicht die Revolution vom Oktober 1989, wohl aber die Entwicklung danach: „Der Umschlag der Revolution in den gewollten Zusammenbruch des Gemeinwesens ist ein Ausdruck der sozialstrukturellen Regression in der DDR.“ Sobald das herrschende politische System beiseite geschoben war, verfügte die Gesellschaft über keine eigenen „Organisationsformen sozialer Reproduktion“ mehr. Sie werden deshalb jetzt - aus der BRD - importiert.

Es hätte eine Alternative gegeben, darauf wiesen Jan Wielgohs und Marianne Schulz (ISS) hin: die „demokratisch -sozialistischen“ Ansätze vom Oktober. Doch deren Protagonisten - politisch und kulturell orientierte Bürgerrechtsaktivisten - wurden nach dem 9. November von den nun in Bewegung geratenen Massen beiseite geschoben. Deren Orientierung auf die „deutsche Einheit“ interpretieren die beiden Wissenschaftler „als Gegenbewegung zu dem von der 'alten‘ Opposition antizipierten sozialkulturellen Wandel“. Sollte diese Interpretation zutreffen, so bestünde - muß man schlußfolgern - die Pointe darin, daß die „neue“ Opposition, d.h. ein großer Teil der Bevölkerung, aus Angst vor Modernisierung eine überstürzte und deshalb besonders rabiate Form dieses Prozesses durchsetzt. Die Geschichte würde nicht zum ersten Mal einer solch verqueren Logik folgen.

Was da auf die DDR zukommt, darüber wurde u.a. in einer Arbeitsgruppe über „Soziale Lage und Sozialstatistik“ diskutiert. Horst Miethe (ISS) berichtete über eine Modellrechnung, die unterstellt, daß die DDR-Wirtschaft auf das gleiche Rationalisierungsniveau wie die BRD gebracht wird: Von gegenwärtig 8,6 Millionen Arbeitskräften würden 3,6 Millionen „freigesetzt“. 2 Millionen von ihnen würden durch Wachstum absorbiert, 1,6 Millionen blieben arbeitslos, wobei eine Million in der „stillen Reserve“ verschwinden würde.

Existenzängste

Opfer dieser „Freisetzungen“ werden auch SoziologInnen werden. Einige hat dieses Schicksal bereits ereilt. Darüber wurde auf dem Kongreß mit großer Sorge debattiert. Rationalisierung und Einsparungen im Staatshaushalt auf der einen Seite, die als übermächtig empfundene Konkurrenz der bundesdeutschen Soziologie auf der anderen haben soziale Existenzängste ausgelöst. Verschärft wird diese Konstellation noch durch die Konflikte zwischen den echten SoziologInnen in der DDR und jenen „marxistisch -leninistischen“ Ideologieproduzenten, die nach dem Zusammenbruch ihrer Disziplin unter die Fittiche des honorigen Faches Soziologie zu flüchten versuchen.

Als Antwort auf all diese Probleme wurde auf dem Kongreß eine „Gesellschaft für Soziologie der DDR“ als Fachverband gegründet. Sie soll in einer Situation, in der die Soziologie mehr denn je gebraucht würde, materiell jedoch von der allgemeinen Krise nicht verschont ist, helfen, berufliche Interessen wahrzunehmen. „Die besungene Zukunft ist beendet“, konstatierte Frank Hedrich in seinem Kongreßbeitrag, doch zu der Erkenntnis dessen, was auf sie folgen wird, tasten sich auch die Soziologen der DDR erst langsam vor.