Ulrike Meinhof: Briefe aus dem toten Trakt

Ulrike Meinhof: Briefe aus dem toten Trakt

„das gefühl, es explodiert einem der kopf (das gefühl, die schädeldecke müßte eigentlich zerreißen, abplatzen) - das gefühl, es würde einem das rückenmark ins gehirn gepreßt das gefühl, das gehirn schrumpelt einem allmählich zusammen wie backobst z.b. - das gefühl, man stünde ununterbrochen, unmerklich, unter strom, man würde ferngesteuert - das gefühl, die assoziationen würden einem weggehackt - das gefühl, man pißte sich die seele aus dem leib, als wenn man das wasser nicht halten kann - das gefühl, die zelle fährt. man wacht auf, macht die augen auf: die zelle fährt; nachmittags, wenn die sonne reinscheint, bleibt sie plötzlich stehen. man kann das gefühl des fahrens nicht absetzen.

man kann nicht klären, warum man zittert - man friert. um in normaler lautstärke zu sprechen, anstrengungen, wie für lautes sprechen, fast brüllen - das gefühl, man verstummt man kann die bedeutung der worte nicht mehr identifizieren, nur noch raten - der gebrauch von zischlauten - s, ß, tz, sch - ist absolut unerträglich. beim schreiben: zwei zeilen

-man kann am ende der zweiten zeile den anfang der ersten nicht behalten - rasende aggressivität, für die es kein ventil gibt. das ist das schlimmste. klares bewußtsein, das man keine überlebenschance hat; völliges scheitern, das zu vermitteln; besuche hinterlassen nichts. einmal in der woche baden dagegen bedeutet: einen moment auftauen, erholen hält auch für ein paar stunden an - das gefühl, sich in einem verzerrspiegelraum zu befinden - torkeln

Hinterher: fürchterliche euphorie, daß man was hört - über den akustischen tag- und nachtunterschied - das gefühl, daß jetzt die zeit abfließt, das gehirn sich weiter ausdehnt, das rückenmark wieder runtersackt über wochen.

das gefühl, es sei einem die haut abgezogen worden.“ Briefe aus der Zeit vom 16.6.1972 - 9.2.1973 in Stammhei