Rhetorik des apparativen Tods

■ Frederick Wisemans 6-Stunden-Dokumentation „Near Death“

Schlimmes war zu befürchten: fast sechs Stunden Film über Sterbende in einem amerikanischen Krankenhaus. Aber merkwürdig, dies war nicht jene starke Dosis Furcht und Elend, wie sie routinierte Dokumentarfilmbesucher gelegentlich brauchen, um sich und die Welt wieder zu spüren. Statt dessen rauschten die 348 Minuten, schwarz/weiß, 16mm, an einem vorbei; man konnte sich „das richtig ansehen wie ein Gemälde“ - wie ein Besucher treffend sagte.

Sechs Wochen hatte Frederick Wiseman in der Intensivstation des Beth Israel Krankenhauses in Boston zugebracht, einem technologisch avancierten Krankenhaus mit relativ lichter Architektur und - auf das ältere Gebäude ist ein kleiner Hochhausturm gesetzt - guter Aussicht auf die Stadt. Diese Umstände erkennt man nur in Sekundenschnitten.

Im Detail zeigt Wiseman die tödlichen Geschichten von vier oder fünf Patienten: zum Beispiel die Geschichte des alten Mannes, der geistig ganz da ist, aber körperlich rapide verfällt. Er muß entscheiden, was geschehen soll, wenn die Primärfunktionen Herz oder Lunge versagen. An die Maschinen

-ja oder nein?

Das will der Patient - unter den buschigen Augenbrauen den Blick früherer patriarchaler Macht gemischt mit aufkommender Todesangst - nicht entscheiden. Er beruft sich auf den living will, den er bei einem Notar hinterlegt hat; er appelliert an das Wissen des medizinischen Personals; er fragt, vorsichtshalber, ob sein Bett auf der Intensivstation auf die Dauer zu teuer wäre. Er scheut sich, die Grenze zu berühren, wo der eigene Tod in irgendeiner Form verfügt werden muß, mit den Apparaten oder gegen sie.

Aber die Doctors bestehen darauf; das ist im Beth Israel policy. Wenn die Patienten nicht mehr entscheiden können, werden die Angehörigen nicht verschont. Schuldgefühle und Angst sollen im Prozeß der Entscheidungsfindung überwunden werden. Das kostet Zeit. In dieser Hinsicht ist dieses Krankenhaus - wenn Wiseman nicht mogelt - vorbildlich. Die Gespräche: Kein ungeduldiges Wegdrehen von Kopf und Schultern, keine Berührungen mit falscher Routine.

Wiseman folgt allen Phasen der Entscheidungsfindung. Deshalb ist der Film auch so lang. Er studiert die Rhetorik des Trostes, des brain stormings, des Protokolls, der Konferenz, der Unterrichtung, des Streitgesprächs. Informationen müssen hier verkürzt werden; woanders - und nicht nur gegenüber den Patienten und Angehörigen - ist ohne Erklärung, Wiederholung oder Rückversicherung alles verloren. Wo die Maschinen nicht als Sachzwang angesehen werden, sondern als Option - nur sinnvoll auf begrenzte Zeit, vergleichbar einem Kredit - muß am Fundament der Ethik wieder gebaut werden. Das tut der Film Near Death jenseits der Ethikkommissionen im „Milieu“, in der Praxis der Nadeln und der Nachtschichten.

Daß man diesem Bericht, der nicht im Geringsten Traktat ist, mißtrauen kann, ist klar. Daß man das, was Wiseman zeigt, auch ins Zynische wenden kann, zeigt der Autor des Informationblatts des „forums des jungen films“, Andr Simonoviescz: „Ärzte und Schwestern zeigen sich von der Familienentscheidung befriedigt: diese Familie braucht nicht überzeugt werden. Zeit gewonnen, für...“. Unsinn: Mr. Cabra, 33, ist Opfer der Chemotherapie, die ihn vom Hodenkrebs geheilt hat. Seine Lunge ist unrettbar verloren. Der Familie, drei Kindern und seiner jungen Frau, gelingt es, sich von dem Vater zu lösen, der sie schon lange nicht mehr hört und sieht.

Sicher hat das Geschehen absurde, furchtbare Seiten: die Ungeschicklichkeit der Schwestern beim Verpacken der Leiche Cabras; oder wenn seine hölzernen und schweren Lungen schließlich in einer Schale liegen, zusammen mit anderen Organen, bestaunt von dreißig Student (inn)en und von einigen betastet.

Aber Wiseman gelingt es, uns - eben als Kinogänger - in den Prozeß zu verstricken, ohne uns zur pressure group für eine Seite im gesellschaftlichen Konflikt um technologische Gewalt machen zu wollen. Er folgt den Leuten, die ihre Zustimmung gegeben haben, gleichwohl intim aber doch wie unbemerkt. Keinerlei Irritation durch das Drei-Mann-Team wird spürbar. Auch führt Wiseman keine Interviews. Er wartet auf den Moment der Evidenz, ein klassischer Dokumentarist, streng, wendig, mit zäher Geduld; fast zärtlich die Schärfe führend, besessen vom Detail, ohne die klebrige Zutat der „Filmmusik“.

Für jetzt oder zukünftig Betroffene bietet Near Death eine Fülle von „psychologischen“ Informationen, die in dieser Dichte, bei ähnlichem Thema, nur zu bekommen sind in Rolf Schübels Film „Der Indianer“ über den krebskranken Leo Lenz, gezeigt auf dem „forum“ im letzten oder vorletzten Jahr. Die dramaturgische Dichte des „Indianers“ erreicht Near Death wohl nicht. Die Lebensgeschichten der Patienten bleiben, eben weil Interviews nicht geführt werden und keine Informationen aus dem off dazukommen, etwas unvollständig. Andererseits sind die Patienten, als Figuren, schwere Konkurrenz für die Studie der Rhetorik, auf die einsteigen muß, wer fast einen Arbeitstag lang in diesem Film sitzen bleiben will. So ist das Werk, obwohl motivisch geschlossen, von den Mitteln entschieden und in der Sache ein wichtiger Beitrag, erzählerisch eher ein Kompromiß.

Ulf Erdmann Ziegler

Frederick Wiseman, Near Death. Kamera John Davey.

13.2. Akademie der Künste (West), 12 Uhr