Abschied von einer Legende

■ FU-Projekttutorium „Der Fortschritt hat vier Räder (?)“ untersucht den Weg zur totalen Autogesellschaft / Automobilisierung brachte dem Menschen keine Zeitersparnis, sondern weitere Wege, Staus und Wartezeiten

Es war einmal ein großer Automobilkonstrukteur, der hatte eine geniale Idee - und deswegen haben wir heute alle die Möglichkeit, Auto zu fahren. So will es die Legende von Henry Ford, dem Erfinder des Fließbandes und Großvater der Massenmotorisierung.

„Henry Ford war nur ein Produkt seiner Zeit. Den 'Fordismus‘ hätte es auch ohne Henry Ford gegeben“: Diese These hält der Tutor Knud Kohr der alten Legende entgegen. Erarbeitet hat sie ein Projekttutorium an der Freien Universität, das sich an einer Sozialgeschichte des Autos versucht. Das Projekttutorium ist eines von knapp 70 Tutorien, die als Folge des Streiks zu Beginn des Wintersemesters an der FU eingerichtet wurden. Die knapp zehn TeilnehmerInnen versuchen herauszufinden, in welchem ökonomischen, sozialen und politischen Kontext sich das Auto durchgesetzt hat und wie es zur „totalen Autogesellschaft“ gekommen ist.

Die gängige Darstellung, große Ereignisse hätten die Geschichte gemacht, hat das Projekttutorium mit dem Namen „Der Fortschritt hat vier Räder (?)“ am Ende seines ersten Arbeitssemesters über den Haufen geworfen. Die Massenmotorisierung in den USA war Ergebnis einer Entwicklung, an deren Beginn ausgerechnet eine starke Fahrradlobby stand. Sie kämpfte um die Jahrhundertwende für bessere Straßen. Die erfinderischen Konstrukteure bauten zu dieser Zeit Fahrräder. Die Autohersteller warben sie ab, als die Nachfrage nach dem Automobil stieg: Der Ausbau des Straßennetzes schuf die Voraussetzung für den Einsatz des Autos, an dem vor allem Farmer Interesse hatten, um in die Städte fahren zu können. In diesen Jahren (1908-13) ließ Henry Ford Rationalisierungsstudien durchführen, an deren Ende die Autoherstellung vom Fließband stand. Zur gleichen Zeit war in Deutschland das Automobil elitäres Fortbewegungsmittel einer kleinen Oberschicht, die sich nicht mit dem „Pöbel“ in der Eisenbahn drängen wollte. Die Bahn mit einem weitverzweigten Schienennetz beförderte den Massenverkehr - und sie fuhr dabei Milliardengewinne ein. Erst die systematische Schwächung der Bahn durch den Staat seit 1933 verlagerte den Verkehr von der Schiene auf die Straße.

So wurden die Gewinne der Eisenbahn nach 1933 für den Autobahnbau verwendet. Die NS-Propaganda mit ihrer Verherrlichung der sonntäglichen Spazierfahrt machte den Kraftwagen zum Mythos. Nach dem Krieg sorgten die USA dafür, daß sich die von den Nazis gleichgeschaltete Autolobby schon 1946 wieder institutionalisieren konnte. Investiert wurde vorrangig in den Straßenbau, obwohl die Bahnverbindungen durch den Krieg stärker zerstört waren: Weichenstellungen, die in die „totale Autogesellschaft“ führten. Eine Zeitersparnis brachte die Automobilisierung für die Menschen jedoch nicht: Untersuchungen haben ergeben, daß weitere Wege, Staus und Wartezeiten den Zeitgewinn, den das Mehr an PS brachte, wieder aufgefressen haben. Das „Reisezeitbudget“ ist in den letzten hundert Jahren konstant geblieben.

Das Projekttutorium hat das Ziel, aus der Analyse der Verkehrsgeschichte heraus die aktuelle Verkehrspolitik zu bewerten und Konzepte einer künftigen Verkehrspolitik zu entwerfen. Wie viele der Projekttutorien hatte es jedoch von Anfang an mit widrigen Umständen zu kämpfen: Nur mühsam hat es sich einen Raum im Physikgebäude an der Arnimallee sichern können, wo es sich jeden Dienstag treffen kann. Auch mußten die Tutoren mit Handzetteln und Plakaten selbst die Werbetrommel rühren, damit das Projekt überhaupt zustande kommen konnte.

Erst im Sommersemester werden Tutoren-Koordinatinsstellen geschaffen, mit denen die Projekte ihre Interessen an der FU besser vertreten können.

wist