Kanzler Helmut Kohl an der Eigernordwand

Eduard Lintner, deutschlandpolitischer Sprecher der Bonner Unionsfraktion, faßte das Ergebnis des deutsch-deutschen Gipfeltreffens gestern präzise zusammen: Die Gespräche zwischen Hans Modrow und Helmut Kohl hätten „den vom Bundeskanzler konzipierten Verlauf genommen“. Dessen Konzept hatte hilfsweise schon vor Tagen der Baden-Württembergische Ministerpräsident Lothar Späth formuliert: Die DDR müsse „bedingungslos kapitulieren“. Wie unterlegene Kriegsgegner fühlten sich denn auch Mitglieder der DDR-Regierung im Kanzleramt. Mathias Platzek von der Grünen Partei: „Man hat den Eindruck, daß wir sturmreif geschossen werden sollen.“

Um im Bild zu bleiben: Aus der Sicht des Bundeskanzlers hat dieser Krieg nicht nur eine nationale Front. Da ist auch noch die bundesdeutsche, parteitaktische - und beide verquicken sich zu einer komplizierten Gemengelage. Die DDR darf keine Soforthilfe bekommen, damit sie sich gar nicht mehr eigenstaatlich stabilisieren kann.

Dadurch hält der Übersiedlerstrom aber zwangsläufig an, 85.000 kamen seit Jahresbeginn. Und die Einwanderungswelle wird vorläufig auch nicht zu stoppen sein, davon gehen Regierungskreise bei internen Betrachtungen aus.

Trotz ihrer faktischen Destabilisierungspolitik sendet die Bundesregierung aber immer wieder verbale Stabilisierungssignale Richtung DDR aus. Indem zum Beispiel der als unnütz angesehene Modrow-Besuch nicht, wie erwogen, abgesagt wurde. Und indem zum Beispiel Rainer Eppelmann, DDR -Minister vom „Demokratischen Aufbruch“, durch eine Audienz bei seinem CDU-Freund Seiters bewogen wird, dieses Bonner Gipfeltreffen gestern plötzlich als „vollen Erfolg“ zu loben - vorher hatte Eppelmann das Gegenteil bekundet.

So widersprüchlich solche Manöver sind: Dahinter mag der Wunsch der Regierung stehen, die Kapitulation der DDR möge sich in halbwegs geordneten Bahnen vollziehen.

Diese Manöver haben aber ebenso innenpolitische Gründe. Die Bundesregierung muß zumindest vorgeben, die Übersiedler stoppen zu wollen, um die heimatlichen Stammtische zu beruhigen. Sie muß ebenfalls vorgeben, den raschen Gang zur deutschen Einheit ohne Steuererhöhungen bewältigen zu können.

Denn vor der Bundestagswahl, die nun in Frage steht, kommen ja noch andere Wahlen: Zum Beispiel, parallel zur DDR-Wahl am 18.März die bayrischen Kommunalwahlen, Testlauf für die folgende Landtagswahl. Theo Waigel agiert jetzt folglich nicht nur als Bundesfinanzminister, sondern auch als Vorsitzender der CSU. Und deren Wähler wollen, Umfragen zufolge, in beträchtlichem Umfang zu Schönhuber überlaufen.

Über die Bundestagswahl, eigentlich für den 2.Dezember geplant, wird nun in Bonn spekuliert, sie werde womöglich verschoben oder finde bereits gesamtdeutsch statt. Dieses Szenario ist für die Regierungspartei mit vielen Unwägbarkeiten behaftet. Helmut Kohl möchte die Bühne der internationalen Konferenzen in den entscheidenden nächsten Monaten nicht gerne mit einem sozialdemokratischen DDR -Regierungschef teilen müssen - diese Erwägung spricht für einen scharfen Destabilisierungskurs gegenüber der DDR, damit deren Regierung gar keine Rolle mehr spielt. Aber ob die Zeit dann reicht für eine gesamtdeutsche verfassungsgebende Versammlung? Formal könnte die Bundestagswahl bis zum März 1991 vertagt werden. Doch selbst wenn die Wiedervereinigung in diesem Jahr mit einem Procedere bewerkstelligt wird, dessen demokratischer Anstrich internationale Beobachtern zufrieden stellt: Bis dahin könnte die soziale Frage die nationale bereits soweit überschatten, daß die Wähler hüben wie drüben ihr Heil in einer gemeinsamen SPD-Regierung suchen. Hinter vorgehaltener Hand sprechen schließlich auch Kabinettsmitglieder über „erhebliche soziale und politische Turbulenzen“, die die Wiedervereinigung im bisher stabilen bundesdeutschen Raum auslösen wird. Und für die wirtschaftlichen Risiken der schnellen Währungsunion fand der Kölner Ökonom Professor Christian Watrin gestern ein nachgerade tödliches Bild: „Das ist die Eigernordwand im Winter.“

Um diese im Sturmlauf zu nehmen, hat sich das Kabinett gestern erst einmal selbst eine Soforthilfe genehmigt: 150 neue Planstellen im Regierungsapparat zur Bewältigung der deutschen Einheit. Und Wirtschaftsminister Haussmann bemühte sich gestern, als er eigentlich neue Existenzgründungskredite für DDR-Mittelständler vorstellte, Aufbruchstimmung beim bundesdeutschen Kapital zu wecken: Die Produktivität in der Noch-Bundesrepublik werde steigen durch eine „neue Arbeitsteilung“ mit der östlichen Hälfte des künftig einheitlichen Wirtschaftsraums - lohnintensive Betriebe würden nämlich dorthin abwandern, wo die Löhne ja vorerst niedrig bleiben müßten.

Charlotte Wiedemann