Verlogen

Zum Bericht „Katastrophe Krankenhaus“ auf Seite 32  ■ K O M M E N T A R

Bei jedem Kind, das stirbt, fragen wir, ob es mit entsprechenden modernen Geräten nicht hätte überleben können“, berichtet der Chefarzt einer Kinderklinik. Ihm und seinen Kollegen fehlt es an allem. Nicht einmal Blut steht in ausreichendem Maße zur Verfügung. „Sehenden Auges“ hantieren sie mit bewundernswertem Engagement zwischen Leben und Tod. Nicht in einem Kriegsgebiet, nicht in der Situation nach einer Naturkatastrophe, nicht irgendwo in der Dritten Welt. Nein, nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt von diesem Schreibtisch - in Ost-Berlin. Alleine gelassen mit ihrem Hippokratischen Eid, mit kranken Menschen, denen besser geholfen werden könnte. Alleine gelassen von Kollegen, die diese Mangel- und Streßwirtschaft nicht mehr aushalten konnten. Zynisch alleine gelassen aber vor allem von all jenen West-Politikern, die unweit der Pforten dieser Krankenhäuser derzeit Hymnen singen und das vaterländische Paradies auf Erden herbeireden - dieses aber an immer neue Bedingungen knüpfen und frühestens ab Stichtag überhaupt ernsthaft in Angriff nehmen wollen.

Und die „Katastrophe Krankenhaus“ ist nur ein besonders trauriges Beispiel für das Aushungern eines Landes. Hier, wie auch in anderen Bereichen des derzeit so düsteren DDR -Alltags, nimmt man wissentlich und unmenschlich in Kauf, daß immer mehr Menschen diese „Zwischenzeit“ nicht länger ertragen können. Macht doch nichts, wenn die Patienten nicht nur zum Krankenhausaufenthalt in den Westen kommen. Macht nichts, wenn weitere Pfleger in den West-Krankenhäusern erträglichere Jobs annehmen. Macht nichts, wenn jede improvisierte Therapie zur Gewissensfrage wird. Und daß dabei bei allen Beteiligten das Gefühl einer unsäglichen Demütigung aufkommt und bleibt, macht schon gar nichts.

Da bleibt nur zu hoffen, daß viele noch vor der Wahl kapieren, daß der Vorwurf der „Undankbarkeit“ von Bundeswirtschaftsminister Haussmann (SPD) an die Modrow -Regierung nicht nur der unverschämte Ausrutscher eines dümmlichen Politikers war. Und daß sie verstehen, was es heißt, wenn Privatleute Spenden sammeln und Transporte organisieren müssen oder Landesregierungen aus ihren Regelhaushalten Almosen zusammenkratzen - während die vaterländischen Gesellen in den Chefsesseln in Bonn, Frankfurt/Main und anderswo Privateigentum und Markt schreien und ihr Wirtschaftswunder planen. Ja, es stimmt schon, ohne den Blick auf das ach so humane Bonn sollte keiner an die DDR-Wahlurne treten.

Thomas Kuppinger