Der Erfolg der Wespe

■ Neunundvierzig Millionen Jahre läuft jetzt schon das Modell Wespe / Neuigkeiten aus der Ölschiefergrube Messel

Heide Platen

Fünfundsechzig Millionen Jahre währt die Erdneuzeit, die Zeit des Tertiär. Lächerlich, gemessen an den drei Milliarden Jahren, die bis dahin schon vergangen waren. Die Dinosaurier sind ausgestorben, die Polkappen nicht vereist, die Kontinentalschollen in heftige Bewegung geraten. Der afrikanische Kontinent driftet unbeirrbar und mit Macht nach Norden. Mitten im Eozän, vor rund 49 Millionen Jahren, toben im Rhein-Main-Gebiet Stürme, ziehen träge Flüsse durch das Land, entstehen Seen und Meeresarme und verschwinden wieder. Vulkane brechen aus und verändern die Landschaft. Unter Palmen in üppiger tropischer und subtropischer Vegetation beginnt der Siegeszug der Säugetiere durch die junge Erdgeschichte. Wer heute von Frankfurt die 30 Kilometer südlich zur Grube Messel fährt, hätte diese Reise natürlich rein theoretisch - im Eozän im Süden von Neapel angetreten. Erst die Kontinentalverschiebung rückte diese „Mitteleuropäische Insel“ um zehn Breitengrade nach Norden, faltete dahinter die Alpen auf und versperrte die freie Sicht aufs Mittelmeer. Mittelmeer? Das breitete sich aus bis zum Indischen Ozean, Paris lag landunter, Spanien, Sardinien und Korsika schwammen als Teilplatten im Wasser, Italien und der Balkan waren überflutet. Landbrücken verbanden den amerikanischen und den europäischen Kontinent miteinander.

Der englische Geologe Charles Lyell nannte das Eozän im vorigen Jahrhundert nach Eos, der griechischen Göttin der Morgenröte. Was er damit gemeint haben könnte, dokumentieren Stephan Schaal und Willi Ziegler in dem Buch Messel - ein Schaufenster in die Geschichte der Erde und des Lebens: „Zahlreiche Ordnungen der modernen Säugetiere gehen in ihrer stammesgeschichtlichen Entwicklung auf das Eozän zurück. Dies gilt zum Beispiel für die Rüsseltiere (Proboscidea), die Raubtiere (Carnivora), die Unpaarhufer (Perissodactyla), die Paarhufer (Artiodactyla) und die Nagetiere (Rodentia). Allerdings sind ihre Vertreter zur Zeit des Eozäns noch sehr ursprünglich gebaut.

Still geworden ist es im Jahr 1989 um die Grube Messel. Jahrelang war sie als geplante Mülldeponie Zankapfel zwischen NaturschützerInnen, PolitikerInnen, Geologen, Paläontologen und Industrie. Mittlerweile will wohl niemand mehr, auch die CDU-Landesregierung nicht, daß diese erdgeschichtliche Fundgrube mit dem stinkenden Unrat des Rhein-Main-Gebietes zugeschüttet wird. Der See Messel des Eozän allerdings, durch einen Grabenbruch mit einer Kette umliegender Seen entstanden, ist auch keine Idylle, sondern eher ein giftiger, gasender Pfuhl mit stehendem Wasser.

In ihm hält sich wenig tierisches Leben. Eine vorzeitliche Algenpest nimmt dem See den Atem. Pflanzen- und Tierreste sinken zum Grund und mischen sich mit dem eingeschwemmten feinen Tonstaub, lagern sich Schicht für Schicht etliche hunderttausend Jahre ab und bilden die heute abgelagerte Ölschieferschicht von rund 190 Metern Stärke. Im See rumort es, Faulgase steigen an die Oberfläche. Insekten, Vögel und Fledermäuse, durch Stürme herangeweht, taumeln über dem Wasser, ersticken im giftigen Dunst, sinken auf den Seegrund und werden dort im Moder in kurzer Zeit luftdicht „verpackt“ und konserviert. Säugetiere stürzen an den Ufern ins Wasser, ertrinken, langen vollständig erhalten am Seegrund an oder treiben verwesend auf der Oberfläche und sacken Stück für Stück auf den Seeboden.

49 Millionen Jahre später. Stephan Schaal, Leiter der Sektion Messel des Frankfurter Senckenberg-Museums, ist sichtlich stolz auf seine Aufgabe. Er führt durch die Grube, in der schon im vorigen Jahrhundert Ölschiefer zur Gewinnung von Paraffin und Mineralöl abgebaut wurde. An ihrem Grund hat sich ein kleiner Tümpel gebildet. Im Sommer surren Libellen darüber und Enten, Teichhühner und Frösche tummeln sich. Durch den Schotter, der für die Mülltransporter aufgeschüttet worden war, drängen sich Grashalme.

Oberhalb des Tümpels, an einer der drei derzeitigen Grabungsstellen, schwingt Gisela Krebs den Hammer. Sie läßt ihn scheppernd auf einen breiten Metallkeil krachen, dann auf den nächsten und übernächsten. Gisela Krebs ist verantwortlich für diesen Fundort. Die Energie der zierlichen, schwarzgelockten Frau bringt langsam auch die Crew - die meisten sind StudentInnen der Geologie - aus einer verschlafenen Mittagspause auf die Beine. Seit sieben Uhr morgens haben sie hier auf dem schwarzen Boden gesessen und mit breiten Messern Ölschiefer, Ölschiefer, Ölschiefer gespalten - eine glitschige Angelegenheit.

Über ihnen am Hang ist wieder eine Scholle losgeschlagen circa zwei mal einen Meter breit, 20 Zentimeter hoch und zentnerschwer. Der Block rutscht langsam auf dem seifigen Untergrund abwärts. Und dann ist die Müdigkeit verflogen, die Spannung wieder da. Die großen Platten werden der Länge nach zerteilt und - wie ein Buch - vorsichtig auseinandergeklappt, Schicht für Schicht in einer Breite von etwa einem halben Zentimeter, das folgt im Groben der Ablagerungsdichte der schieferartig übereinanderliegenden millimeterdünnen „Jahresringe“ des Ölschiefers. Das Blättern im Buch der Erdgeschichte ist eine Geduldsprobe. Ein Fund ist auch in dieser dank unwirtlicher Lebensbedingungen so reichhaltigen Fossilienfundstätte die Ausnahme.

Kleine Fische sind da, winzig wie Stichlinge, ein zwei Handteller großer Schlammfisch, ein kleinerer und ein noch größerer Knochenhecht, dessen neuzeitliche Verwandte heute noch vereinzelt in Mittelamerika vorkommen. Seine rautenförmigen, harten, braunen Schuppen glänzen blank auf der Handfläche. Eine zierliche Fliege spreizt im Ölschiefer den schattenhaften Abdruck ihrer Flügel, die Beinchen fein und tänzerisch gereckt. Der Flügel eines Käfers schillert in metallischem Grün.

Gisela Krebs hält einen Prachtkäfer ans Licht, pfenniggroß, mit goldenen Flügeln, auf denen ein grünrotes Muster schimmert. Reste größerer Käfer kommen zutage und funkeln grün und blau. Die Spezies ist bekannt, die leuchtenden Bruchstücke wandern auf den Abfallhaufen, der sich um die Fundstätte türmt. Sie taugen nicht einmal zum Souvenir. Nach nur wenigen Stunden an der Luft verzieht und verbiegt sich der Ölschiefer, wird spröde und zerfällt dann zu Staub. Die Fundstücke müssen deshalb in Eimern unter Wasser zwischengelagert werden.

Grabende Laien sehen die PaläontologInnen nicht so gerne, obwohl es Hobby-Archäologen waren, die vor gut 100 Jahren auf die Grube aufmerksam machten. Zu viele seltene Stücke sind durch falsche Konservierung zerstört worden, verschwunden, im Privatbesitz untergetaucht. Ab und zu aber lassen sie, zum Beispiel neugierige JournalistInnen, auf das Gelände. Und dann rümpfen die „alten Hasen“ belustigt die Nase. Die stolz präsentierten dicken Ausbuchtungen auf den glatten Ölschieferplatten sind nicht etwa eingekapseltes Wunder des Eozän, sondern Koprolithen. Was bitte? Auf deutsch: 49 Millionen Jahre alte Scheißhaufen!

Im Senckenberg-Museum am Alleenring in Frankfurt zieht Stephan Schaal die Schubladen auf, führt durch kleine Hinterräume. Hier liegen die präparierten Exponate dicht an dicht. Im Raum davor ziseliert ein Präparator mit einem Zahnarztbohrer die Feinheiten eines Fundes heraus. Die Konservierung des Ölschiefers stellte die Paläontologen vor große Probleme. Sie experimentierten mit Gießharz, Glycerin und verschiedensten Einbettmassen. Mittlerweile wird das mürbe Rohmaterial vorwiegend mit Cyanacrylat (Sekundenkleber) getränkt, um die Strukturen zu festigen. Glanzstücke der Konservatoren sind inzwischen freipräparierte Stücke, z.B. Krokodile und Schildkröten, von deren Skeletten der Ölschiefer gänzlich entfernt ist.

Im Museum tut sich die Wunderwelt der Flora und Fauna des Eozän in Fülle auf. Farne ähneln schon eher den heutigen Arten als jenen Riesengewächsen davorliegender Zeitalter, Nadelbäume wachsen vereinzelt am Seeufer, die Gräser stehen noch lange vor ihrer erdgeschichtlichen Hochzeit.

Die Flora rund um den Messeler See hat ihre Nachfahren auch heute eher in den Subtropen und Tropen: Palmen, Aronstabgewächse, üppige Lorbeergewächse, Seerosen im Wasser und Lianen am Ufer, Hülsenfrüchtler in allen Größenordnungen, Teegewächse, stachlige Kletterpflanzen und Walnußvorfahren wachsen an den Steilufern und in den weiter abgelegenen Sümpfen und Trockengebieten rund um den See. Früchte, Blüten, Blätter und sogar Pollen lassen sich durch die Messel-Funde zuordnen. Rein tropische Pflanzenfamilien fehlen. Friedemann Schaarschmidt kommt zu dem Schluß: „Es muß sich somit um einen artenreichen Regenwald gehandelt haben, der jedoch in nördlichen Breiten gedieh, in denen heute gemäßigte Floren wachsen.“

Auch Weinreben waren dabei. Diese müssen den Paradestücken aus Messel besonders gut gemundet haben, den sogenannten Urpferdchen. Diese Säuger, die den weltweiten Ruf der Grube fundierten, waren überhaupt sehr geschmäcklerisch. Im Magen eines 1982 gefundenen Tieres fanden sich vorwiegend Weintraubenkerne. Ansonsten mögen sich die zwei Messeler Arten, die größere wurde bis zu 60 Zentimeter hoch, von Blättern ernährt haben.

Zum Grasfresser und Einhufer entwickelte sich das Pferdchen in zahlreichen evolutionären Verästelungen erst später, ausgehend von Europa, vorwiegend in Nordamerika. Die europäische Population starb aus, die amerikanische wuchs und gedieh, änderte Hufzahl und Gebiß und gelangte vor rund elf bis zwölf Millionen Jahren wieder nach Europa, starb dort wieder aus. Ein letzer Schub erreichte die Alte Welt erst vor drei Millionen Jahren vor Beginn der Eiszeit. Das bedeutete ihr Überleben, denn in Nordamerika war es mit Ende der Eiszeit vor rund 8.000 Jahren endgültig vorbei mit ihnen. Pferde sah der Kontinent erst wieder, als spanische Eroberer sie neu einführten.

Weniger populär sind die Funde anderer Säugetierarten im Messeler Ölschiefer. Neben den noch heute vorkommenden, weitaus älteren, „lebenden Fossilien“, den Schuppentieren und Ameisenbären, ließen sich die „Newcomer“ des Eozän, oft samt Fell und Mageninhalt, entdecken. Dabei sind die Primaten eher selten. Kaum halb so groß wie eine Hauskatze war das Halbäffchen, das in Messel neu entdeckt wurde und ein Zwischenglied zwischen Funden aus dem Unter- und oberen Mitteleozän darstellt. Es ähnelt einem doppelt so großen Lemuren, dem Sifaka, der heute noch auf Madagaskar lebt und dort, isoliert, in seiner Entwicklung verharrte.

Die Nagetiere entwickelten sich rasant. Sie waren mäuse-, ratten-, eichhörnchenähnlich, hüpften, sprangen, kletterten, spezialisierten sich auf Pflanzenarten, zeigten Ansätze zum Graben und Schwimmen. Zu ihren Feinden gehörten Urraubtiere, die sich ebenfalls auf Bäumen tummelten und von der Nase bis zur Schwanzspitze ganze 55 Zentimeter groß wurden. Eine kleinere Art mag ein Vogeljäger und Nester gewesen sein, eine dritte am Boden gescharrt und gegraben haben. Alle fraßen sie vermutlich auch Früchte.

Rätsel gibt die Tatsache auf, daß von allen dreien in Messel nur Jungtiere gefunden wurden. Möglicherweise, vermutet Rainer Springhorn, sind nur diese, noch jagdunerfahren, ins Wasser geplumpst. Außerdem sind die Messeler Exemplare sehr kleine Arten. Anderswo waren sie zu dieser Zeit bereits größer und vielfältiger entwickelt. Noch hoffen die ForscherInnen, mit der Zeit auch größere Arten ans Tageslicht zu befördern. Doch erst im auslaufenden Eozän spaltet sich der Stammbaum der Räuber in Richtung von Bären, Wölfen, Mardern, Katzen. Auch Schweine, Flußferde, Hirsche, Ziegen, Rinder, die Unpaarhufer, können in ihrer Ahnentafel auf urtümliche Exemplare im Eozän zurückblicken.

Der Fundus ist unerschöpflich. Einem Igel-Vorfahren sträuben sich noch sichtbar die Haare. Vögel, racken- und rallenähnlich, recken sich wie Ballett-Tänzer. Schlangen, Eidechsen und Frösche, zarte Blüten, Blätter und Früchte stapeln sich. Und Insekten: Spinnen, Schrecken und Zikaden. Nachgerade deprimierend ist die Erkenntnis, daß die Wespen es 49 Millionen Jahre lang nicht nötig hatten, ihr Styling zu verändern. Die Termiten allerdings sind kleiner geworden. Die Termitenköniginnen aus dem Eozän mögen im Hochzeitsflug über den See getaumelt und ins Wasser gestürzt sein. Sie sind gute sieben bis acht Zentimeter lang. Abteilungsleiter Schaal sieht noch mancherlei Überraschungen aus dem See auf sich zukommen. Von einem straußenähnlichen Urvogel mit Hakenschnabel, dem zwei bis drei Meter hohen Diatryma, ist erst ein Oberschenkelknochen entdeckt worden.