Abschied von der Mauer

Zum gestern begonnenen Teilabriß des Berliner Bauwerks  ■ G A S T K O M M E N T A R E

Zwischen Checkpoint Charly und Brandenburger Tor wird sie jetzt also in der Tat „ersatzlos“ abgeräumt - die Mauer. Das ist inzwischen kaum noch eine Nachricht wert. Sie war ja auch seit dem 9.November nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die Wachtürme, die sie säumen, stehen seit Monaten leer, die paar verbliebenen Grenzpolizisten trampeln ebenso respektlos wie die Mauertouristen aus dem Westen auf ihr rum und schießen Fotos fürs Familienalbum, die 3.000 Mauerhunde warten in Tierheimen auf neue Herrchen. Ein entmachtetes, in die Horizontale verrutschtes Totemzeichen, so steht das Unding da, die gemalten Überwindungsphantasien derer, die es trennte, fallen Buchstabe für Buchstabe ab. In ein paar Wochen wird von dem Mythos, der den Status quo zusammenhielt, nichts übrig sein als eine graue und löchrige Wand, durch die der Wind bläst. Na und? Wer wird dem Ding eine Träne nachweinen? Das war's denn also.

„Die Mauer im Kopf einzureißen wird länger dauern, als irgendein Abrißunternehmen für die sichtbare Mauer braucht.“ So stand's im „Mauerspringer“ von 1982. Stimmt das noch? Die Einheit, die sich jetzt über der Ruine wölbt, gleicht einem Planierunternehmen. Nicht nur Beton und Stahl, auch Geschichte und Erinnerung wird abgeräumt. Das im Schatten des Monstrums hie und da womöglich auch Erhaltenswertes gediehen war - Schnee von gestern. Was vom Sozialismus übrigbleiben würde, fragte ich auf der Montagsdemonstration in Leipzig und erhielt nur eine Antwort: „Nichts“. Daß die Mauer eine direkte Folge des von den Deutschen verursachten Weltkriegs war - „wir schreiben jetzt das Jahr 1990“.

Bleibt eine Leerstelle mit Resten also, aber auch Leerstellen können quälen. Denn die Mauer war unter anderem wohl auch der größte Identitätsstifter auf der Welt. Auf was werden unsere Politiker jetzt zeigen, wenn sie mit einer Handbewegung die Überlegenheit des westlichen Lebensmodells demonstrieren wollen? Und auf der anderen Seite: wohin mit dem Haß auf den Staat, der diese Mauer brauchte, wenn da nichts mehr ist; wovon wohl träumen? Nicht zu reden von den Künstlern, Filmern, Schriftstellern, die von dem steinernen Arbeitgeber lebten: Mit der Mauer werden ganze Provinzen der Literatur und Kunst „ersatzlos“ verschwinden. Auch Alpträume, die plötzlich fehlen, erzeugen Verlustgefühle. Können wir wirklich ohne Mauer leben? Wird nun die nicht mehr sichtbare Mauer in Wahrheit nicht nur verschoben werden: gegen alles, was nicht deutsch und weiß ist? Und als Fernziel: Wie wär's mit einer Mauer Westen gegen den Islam?

Peter Schneider