„Kein Versailles für UdSSR“

Mit verbalen Bekenntnissen hat Bundeskanzler Kohl noch nie gegeizt. Nicht nur kein Krieg, Frieden müsse vom zukünftigen deutschen Staat ausgehen, formulierte der Kanzler mit dem üblichen Pathos in Moskau. Wie denn Frieden vom neuen Deutschland über die Welt gebracht werden könne, stellte dann sein Außenminister in dem bekannten Genscher-Plan Nato ja, aber nicht auf dem ehemaligen Gebiet der DDR - vor. Für die Sowjetunion hatte bereits zuvor der noch amtierende Ministerpräsident der DDR formuliert, ein neutrales Deutschland sei am ehesten friedenssichernd - eine Position, die vor der Kohl-Genscher-Reise nach Moskau der sowjetische Außenminister Schewardnadse noch einmal bekräftigte.

Seitdem wird auf zwei Ebenen vorgegangen: Offiziell wird die Frage der Bündniszugehörigkeit des zukünftigen Gesamtdeutschlands erst einmal ausgeklammert und auf die zukünftigen Gespräche zwischen den beiden deutschen Regierungen mit den vier Alliierten verwiesen - parallel dazu versuchen bundesdeutsche, amerikanische und sowjetische Politiker die Verhandlungspositionen in der öffentlichen Diskussion abzustecken und Kompromisse anzudeuten.

Dabei verläuft der Prozeß in der US-Administration genau gegenläufig zu dem in Moskau. Allen Beteuerungen von George Bush zum Trotz, man wolle die derzeit schlechte Verfasung des Warschauer Paktes nicht zu einseitigen Geländegewinnen nutzen, werden anfängliche Kompromißpositionen Schritt für Schritt zurückgenommen. Waren in ersten Reaktionen auf die Neutralitätsforderungen aus Moskau noch Formulierungen enthalten wie: es sei denkbar, daß Deutschland zukünftig in einem Assoziationsverhältnis zur Nato stehen könnte (US -Außenminister Baker) oder aber nur dann Mitglied der Allianz bleiben könnte, wenn diese sich neu definieren würde (US-Präsident Bush), einigten sich Baker und Genscher dann auf den Vorschlag des bundesdeutschen Außenministers. Seitdem wiederholen Mitglieder der Administration auf entsprechende Fragen nur noch stereotyp, ein Verbleib Deutschlands in der Nato sei die Voraussetzung für alle weiteren Überlegungen.

Äußerungen aus der sowjetischen Führung ließen zwischenzeitlich darauf schließen, daß es im Kreml einige Dissonanzen zum Thema gibt. In dem von 'Tass‘ im Anschluß an den Kohl-Genscher-Besuch veröffentlichten Kommunique des Generalsekretärs wurde nur allgemein auf die sowjetischen Sicherheitsinteressen verwiesen, und Schewardnadse trat mit Äußerungen an die Öffentlichkeit, die vermuten ließen, daß Neutralität nicht das letzte Wort ist. Neutralität, so Schewardnadse, wäre zwar wünschenswert, es gäbe vielleicht aber auch noch andere Möglichkeiten. In mehreren Interviews am letzten Wochenende haben nun führende Deutschlandpolitiker der Sowjetunion in westlichen Medien versucht, den Rahmen dieser Möglichkeiten abzustecken. Gegenüber der taz erklärte der Gorbatschow-Berater Portugalow, die Nato befinde sich immer noch in Konfrontation zur UdSSR, und der Genscher-Plan sei für Moskau einfach „zu billig“. Ob die Neutralität als Forderung aufrechterhalten werde, müßten die Diplomaten entscheiden, so Portugalow, doch die jetzige Ausgangsposition des Westens „paßt uns überhaupt nicht“.

Im 'Spiegel‘ legte der in Deutschlandfragen ebenfalls einflußreiche Ex-Botschafter in Bonn, Valentin Falin, eine ähnliche Marschroute fest. Danach ist für die Sowjetunion entscheidend, ob der Westen bereit ist, mit ihr zusammen ein europäisches Sicherheitssystem jenseits von Warschauer Pakt und Nato zu entwickeln. Dabei ist laut Falin ausschlaggebend, inwieweit die jetzt kursierenden Vorschläge noch aus dem Kontext des kalten Krieges stammen oder von Moskau als Ansätze eines neuen Denkens akzeptiert werden können. Die schlichte Einverleibung des neuen Deutschlands in die Nato, so Falin im saarländischen Rundfunk, könne die Sowjetunion jedenfalls nicht schlucken. Das habe mit neuem Denken nichts zu tun.

Das Dilemma der sowjetischen Führung brachte am Wochenende ein anderer Gorbatschow-Berater, Andrej Gratschew, im französischen Rundfunk auf den Punkt: „Wir brauchen die Garantie, daß von einem vereinten Deutschland keine militärische Gefahr mehr ausgeht, aber wir müssen die Fehler des Versailler Vertrages vermeiden.“ Im Versailler Vertrag hatten die Siegermächte des Ersten Weltkrieges eine Begrenzung der Reichswehr auf maximal 100.000 Mann mit den bekannten Folgen festgelegt. Heute erneut auf eine isolierte Entmilitarisierung Deutschlands zu drängen, so die Einschätzung in Moskau, sei letztlich kontraproduktiv und würde nur zu einem verstärkten deutschen Nationalismus führen. Die Alternative liegt aus Moskauer Sicht auf der Hand: Bei einer Entmilitarisierung Europas ließe sich eine Diskriminierung Deutschlands vermeiden.

Einsichtige westeuropäische Sicherheitspolitiker sehen im Moment allerdings eine andere Gefahr für die europäische Sicherheit. Bei einer Konferenz in Potsdam beschwor ein Mitterrand-Berater seine westlichen Kollegen, die Verhandlungen um Deutschland dürften nicht zu einem „Versailles für die UdSSR“ werden. Erste Priorität bei den Verhandlungen müßte eine für die Sowjets befriedigende Regelung sein. Im 'Spiegel‘ bekräftigte Falin diese Einschätzung mit einer drastischen Formulierung: Wenn Gorbatschow oder einer seiner Nachfolger seinen Willen auf die eiserne Art exekutieren wollte, brauchte er in Zentral europa dazu nur ein paar Stunden.

Jürgen Gottschlich