Vier plus zwei!

Gorbatschow: Die äußeren Bedingungen der deutschen Einheit müssen von den vier alliierten Mächten mitbestimmt werden  ■  I N T E R V I E W

Prawda: Unsere Redaktion erhält Zuschriften, in denen um Erläuterungen zur Frage der Vereinigung Deutschlands gebeten wird. Bekanntlich gibt es dazu im Westen eine Vielzahl verschiedener Stellungnahmen, darunter auch zu den Ergebnissen Ihres Treffens mit Kanzler Helmut Kohl. Was können Sie dazu sagen?

Michail Gorbatschow: (...) Wir gehen davon aus - und das sagte ich wiederholt, sowohl öffentlich als auch bei Kontakten mit deutschen Politikern -, daß die Geschichte es nun einmal so gefügt hat, daß zwei deutsche Staaten entstanden sind, und daß die Geschichte auch darüber zu befinden hat, in welcher Staatsform letztendlich die deutsche Nation bestehen wird. Und nun setzte sich die Geschichte unerwartet schnell in Bewegung. Angesichts dessen bekräftigten wir ein weiteres Mal, daß die Deutschen selbst zu bestimmen haben, wie, zu welchen Fristen und in welchen Formen ihre Vereinigung vor sich gehen soll. Davon war auch bei den Gesprächen mit Hans Modrow und bald darauf mit Helmut Kohl die Rede. Aber das ist nur eine Seite des Problems und auch nicht das einzige, worum es bei diesen Gesprächen ging.

Was meinen Sie?

Vor allem, daß eine Vereinigung Deutschlands nicht die Deutschen allein berührt. Bei allem Respekt vor ihrem nationalen Recht ist die Situation doch so, daß man sich nicht vorstellen kann, daß sich die Deutschen untereinander einigen und danach allen anderen vorschlagen, nur noch die von ihnen gefaßten Beschlüsse zu billigen. Es gibt grundlegende Dinge, von denen die Völkergemeinschaft Kenntnis haben muß und die keine Zweideutigkeiten dulden.

Ferner muß von vornherein klar sein, daß weder der Prozeß der Annäherung zwischen der BRD und der DDR selbst noch ein geeintes Deutschland eine Bedrohung oder Beeinträchtigung der nationalen Interessen der Nachbarn und überhaupt irgendeiner anderen Seite mit sich bringen darf. Ausgeschlossen ist natürlich auch jede Infragestellung der Grenzen anderer Staaten.

Neben der Unverletzlichkeit der als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstandenen Grenzen, was das Wesentliche ist, gibt es auch andere Dinge als Folgen des Krieges. Niemand hat die Verantwortung der Vier Mächte aufgehoben. Und nur sie selbst können sich von dieser Verantwortung suspendieren. Noch gibt es keinen Friedensvertrag mit Deutschland. Nur er kann aber auf völkerrechtlicher Basis endgültig den Status Deutschlands in der europäischen Struktur bestimmen.

Lange Zeit wurde die Sicherheit, wie auch immer, durch die Existenz zweier militärisch-politischer Bündnisse, der Organisation des Warschauer Vertrages und der Nato, aufrechterhalten. Einstweilen zeichnen sich erst Voraussetzungen für die Herausbildung eines neuen Sicherheitssystems in Europa ab. Daher bleibt auch die Rolle dieser Bündnisse bestehen, obwohl sie sich mit dem Abbau der Konfrontation bewaffneter Kräfte, der Verminderung der militärischen Sicherheitskomponente und der Verstärkung der politischen Aspekte ihrer Tätigkeit wesentlich modifiziert. Folglich muß auch eine Vereinigung Deutschlands unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten vor sich gehen, und zwar der Unzulässigkeit einer Störung des militärstrategischen Gleichgewichts dieser beiden internationalen Organisationen. Hier muß völlige Klarheit bestehen.

Und ein letzter Umstand: Aus dem Gesagten resultiert, daß der Prozeß der Vereinigung Deutschlands mit dem gesamteuropäischen Prozeß organisch verbunden ist und mit diesem synchron laufen soll, mit dessen Grundlinie - der Herausbildung einer grundsätzlich neuen Struktur der europäischen Sicherheit, die die Blockstruktur ablösen wird.

Bekanntlich haben die Außenminister in Ottawa einen Mechanismus für die Erörterung der deutschen Frage unter Beteiligung der UdSSR, der USA, Großbritanniens, Frankreichs, der BRD und der DDR vereinbart. Könnten Sie erläutern, wie man sich die Rolle dieses Mechanismus vorstellen kann?

In der Tat, es geht um eine bestimmte Form der Erörterung der deutschen Frage zwischen den sechs genannten Staaten. Übrigens ist die Idee eines solchen Verfahrens gleichzeitig und unabhängig in Moskau und in den westlichen Hauptstädten entstanden. Wir besprachen sie mit Hans Modrow und später mit Helmut Kohl. Daher ist es kaum angebracht, irgendwelche „Prioritäten“ für sich in Anspruch zu nehmen.

Die rechtliche Grundlage aber hängt mit den Kriegsergebnissen und mit der Verantwortung der Vier Mächte für die künftige Rolle Deutschlands in der Welt zusammen. Zugleich trägt sie auch den gewaltigen Veränderungen, die sich seither in Europa, in der Welt und in den beiden deutschen Staaten selbst vollzogen haben, Rechnung und schließt diese deshalb in die Formel dieses Mechanismus ein, der bedingt als „2 plus 4“ bezeichnet wurde.

Die Aufgabe besteht darin, alle äußeren Aspekte einer deutschen Vereinigung allseitig und etappenweise zu erörtern, das Problem zur Aufnahme in den gesamteuropäischen Prozeß und zur Erörterung der Grundlagen eines künftigen Friedensvertrages mit Deutschland vorzubereiten. Dabei hängen die Effektivität solcher Konsultationen und deren Ansehen vom Grad des Vertrauens und der Offenheit zwischen allen Teilnehmern ab. Selbstverständlich können die souveränen Staaten jegliche Kontakte, darunter auch zur deutschen Frage, auf bilateraler und auf jeder anderen Grundlage pflegen. Wir schließen aber ein solches Herangehen aus, bei dem drei oder vier anfangs Abmachungen untereinander erzielen und den anderen Teilnehmern eine bereits abgestimmte Position präsentieren würden. Das ist unannehmbar.

Ist aber in dieser Prozedur nicht etwa ein Element von Diskriminierung der anderen Länder vorhanden, die ebenfalls am Krieg teilgenommen haben?

Die Frage ist berechtigt. Gerade deshalb verbinden wir den 2-plus-4-Mechanismus mit dem gesamteuropäischen Prozeß, ohne das historisch bedingte Recht der Vier Mächte zu schmälern, und haben zugleich Verständnis für das besondere Interesse anderer Länder, die in dieser Formel nicht berücksichtigt sind. Und folglich auch für ihr legitimes Recht, ihre nationalen Interessen zu verteidigen. Ich meine vor allem Polen - die Unerschütterlichkeit seiner Nachkriegsgrenzen wie auch der Grenzen der anderen Staaten muß garantiert werden. Eine Garantie dafür könnte nur ein völkerrechtlicher Akt sein.

Wie beurteilen Sie bestimmte Besorgnisse sowjetischer Menschen, wie auch anderer europäischer Völker, hinsichtlich der Entstehung eines geeinigten deutschen Staates im Zentrum Europas?

Sowohl historisch als auch psychologisch ist diese Besorgnis verständlich. Obgleich nicht in Abrede gestellt werden kann, daß das deutsche Volk aus der Erfahrung der Hitler-Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges Lehren gezogen hat. In beiden deutschen Staaten sind neue Generationen herangewachsen, die die Rolle Deutschlands in der Welt anders einschätzen, als es beispielsweise im Laufe der letzten mehr als 100 Jahre und besonders in der Nazizeit getan wurde.

Wichtig ist natürlich auch, daß nicht nur von der Öffentlichkeit der BRD und der DDR, sondern auch auf offizieller, staatlicher Ebene vor der ganzen Welt mehr als einmal erklärt wurde: Von deutschem Boden darf niemals ein Krieg ausgehen. Und im Gespräch mit mir hat Helmut Kohl eine noch mehr verpflichtende Auslegung dieser Formel geäußert: Von deutschem Boden darf nur Frieden ausgehen.

All das stimmt. Niemand darf aber das negative Potential ignorieren, das in der Vergangenheit Deutschlands entstanden ist. Es ist erst recht undenkbar, die Erinnerung der Völker an den Krieg, an sein Grauen und die dadurch verursachten Verluste nicht zu berücksichtigen. Deshalb ist es überaus wichtig, daß die Deutschen, indem sie das Problem der Vereinigung lösen, ihre Verantwortung und auch das nicht vergessen, daß es notwendig ist, nicht nur die Interessen, sondern auch die Gefühle der anderen Völker zu respektieren. Das gilt besonders für unser Land, für das sowjetische Volk. (aus: 'Prawda‘ vom 20.2.90, gekürzt)