Ein offenes Haus für den sozialen Dialog

Calea Victoriei Nr. 120 - früher, als Nicu Ceausescu, der Sohn des gestürzten Diktators, Vorsitzender des rumänischen Verbandes der Kommunistischen Jugend war, war es nicht so einfach, dieses Haus zu betreten. Nun steht das schmiedeeiserne Tor weit offen: Kein Polizist, kein Securitate-Offizier hält einen mehr auf. Gruppe für sozialen Dialog nennen sich die Leute, die nach der rumänischen Revolution vom Dezember letzten Jahres hier eingezogen sind, um ein offenes Haus für den Dialog zu sein.

Es sind vorwiegend Intellektuelle, partei-politisch unabhängige Personen - die Oppositionellen der ersten Stunde: Mircea Dinescu, der Lyriker, der es in Interviews und offenen Briefen mit dem Regime aufgenommen hatte; Stefan Augustin Doinas, Schriftsteller und Übersetzer, politischer Häftling in den Jahren von 1958 bis '64; Radu Filipescu, der Ingenieur, der bereits Anfang der achtziger Jahre Flugblätter in die Briefkästen der Bukarester gesteckt hatte, in denen er zu Demonstrationen aufrief, und zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde; Alexandru Paleologu, Literaturkritiker, politischer Häftling von 1958 bis 1964; Dan Petrescu, der Schriftsteller, der seit 1983 öffentlich das Regime kritisierte und Doina Cornea, die Hochschullehrerin, die durch ihre offenen Briefe an Ceausescu bekannt wurde, verhaftet und verschiedenen Repressionen ausgesetzt war. Die Mitgliedschaft oder Mitarbeit in einer Partei schließt, laut Satzung, die Angehörigkeit zu der Gruppe aus. Auch Trägern oder Unterstützern des alten Regimes wird die Mitarbeit verweigert.

Konstituiert hat sich die Gruppe am 31. Dezember im Bukarester „Continental„-Hotel. Gleich zu Beginn zeichneten sich große Schwierigkeiten für ihre Arbeit ab: Zur Gründungserklärung erschienen ausschließlich Vertreter ausländischer Presseagenturen und Zeitungen. „Bei den ausländischen Medien stoßen wir auf größeres Interesse als bei unseren einheimischen“, beklagte sich Thomas Kleiniger, Sprecher der Gruppe. „Die rumänischen Medien funktionieren eigentlich noch genauso wie früher: Sie erwarten, daß man zu ihnen kommt oder daß sie 'von oben‘ einen Hinweis auf die Gruppe bekommen, um dann über sie zu schreiben.“

Kurzerhand gründeten die Initiatoren der Gruppe für sozialen Dialog eine eigene Zeitschrift - 22 (am 22. Dezember wurde Ceausescu gestürzt). Sie erscheint wöchentlich in einer Auflage von 125.000 Exemplaren. Da den meisten existierenden, mehr oder weniger ideologisch geläuterten Zeitungen und Zeitschriften immer noch Abhängigkeit von der „Front“ oder der Regierung vorgeworfen wird, könnte 22 große Bedeutung erlangen. Darüber hinaus soll das Organ die finanzielle Existenz der Gruppe sichern. Auch sollen Forschungsaufträge zur Geschichte des Landes, der Kommunistischen Partei sowie im wirtschaftlichen Bereich das materielle Fundament der Gruppe verstärken.

Vorrangiges Ziel der Zeitschrift aber ist es, den Adressatenkreis der Gruppe zu erweitern; bisher hat die Gruppe für sozialen Dialog noch zu wenig nach außen gewirkt. Immer noch wird viel Zeit und Arbeit darin investiert, sich selbst zu organisieren. Gesprächsrunden, Seminare und Konferenzen sollen der Bevölkerung Wissen vermitteln, um „die sehr fragile Demokratie zu stärken“, so Kleininger. Vorläufig angepeilte Themen sind: Mehrparteiensystem, freie Gewerkschaften, Parteien, Bürgerrechte, Menschenrechte, Gewaltenteilung, Kultur, Ökologie, Urbanistik und anderes mehr.

Aus Temeswar, Arad, Oradea und Kronstadt (Brasov) meldeten sich bereits Sympathisanten, die in diesen Städten Filialen der Gruppe bilden wollen. Durch eine größere Vernetzung und intensive Präsenz in der Bevölkerung hätte sie die Chance, zum Vermittler zwischen Bevölkerung und Regierung zu werden, zu einem dringend notwendigen Kontrollorgan, auf daß zum Beispiel Verletzungen von Menschenrechten nicht immer nur von ausländischen Organisationen angeklagt werden. Beziehungen zu Menschenrechtsorganisationen, wie amnesty international oder Helsinki Watch wurden bereits geknüpft.

Die politischen Entwicklungen in Rumänien bieten bisher keinen Grund zur Euphorie: Zum einen versucht die „Front zur Nationalen Rettung“, auch nach der Bildung des „Provisorischen Rats der Nationalen Einheit“, ihre Macht zu konsolidieren und die Oppositionsparteien zu schwächen und in Verruf zu bringen. Zum anderen bedarf es in der Bevölkerung nach jahrzehntelanger Zerstörung jedweder Form politischer Kultur eines Wiederaufbaus auch in diesem Bereich sowie der Vermittlung modernen Demokratieverständnisses. Und auf diesem Gebiet sieht die Gruppe für sozialen Dialog für sich ein reiches Betätigungsfeld.

Helmuth Frauendorfer